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Nachricht vom 01.02.2010    

Held der Montagsdemos kam nach Hamm

Christoph Wonneberger, evangelischer Pfarrer im Ruhestand, initiierte und koordinier­te die Frie­dens­gebete in der Leipziger Nikolaikirche, aus denen später die Montagsde­mon­s­trationen und die friedliche Umgestaltung" im Herbst 1989 hervorgingen. Beim 13. ge­mein­­sa­men Neujahrsempfang der beiden Hammer Kirchengemeinden und der Ver­bands­ge­mein­de Hamm berichtete der "Stille Held" - vor zwei Monaten in der gleichnamigen Rubrik mit einem Bambi ausgezeichnet - in einer Talkrunde mit Pfarrer Holger Banse aus seiner Zeit als Pfarrer in der ehemaligen DDR vor dem Mauerfall.

Hamm. In Hamm ist es zur Tradition geworden, das neue Jahr im Zeichen der Gemeinsamkeit und der Gemeinschaft zu beginnen. Mit dem Neujahrsempfang soll der in den vergangenen Jahren mit und unter den Vereinen, Kommunalpolitiker, Verbänden, Institutionen, Vertretern aus Handel und Gewerbe begonnene zukunftsweisende Dialog fortgeführt werden. Vorausgegangen war ein ökumenischer Gottesdienst in der katholischen Kirche "St. Joseph". In ihren Begrüßungen hatten Pfarrer PD Dr. Dr. Michael Klein und Bürgermeister Rainer Buttstedt den Anwesen­den, die trotz des heftigen Schneefalls zahlreich im Dietrich-Bonhoeffer-Haus erschienen waren, nicht zu viel versprochen: Sie erhielten vom Referenten zahlreiche historische Ein­drücke aus erster Hand über die Geschehnisse in der ehemaligen DDR vor nunmehr knapp über 20 Jahren. Pfarrer Christoph Wonneberger war lange Zeit für die Organisation der Montagsdemonstra­tio­nen in Leipzig zuständig. Entwickelt hatte sich dieses Engagement über Jahre hinweg. Und dies war nicht einfach, "denn wenn Drei sich auf der Straße trafen, war Einer mindestens von der Stasi", so Wonneberger. "Das ging nicht von heute auf morgen. Man musste sich erst einmal Mut fassen, auf die Straße zu gehen, um zu demonstrieren", so der Gast aus Leipzig. Die Frage von Pfarrer Holger Banse, ob er sich als Held fühle, verneinte der Referent, der als Mitglied einer Gruppe auch von Paris nach Moskau geradelt war und stets die Fahne "Schwerter zu Pflugscharen" dabei hatte. Fest steht, dass der in Wiesa/Erzgebirge geborene 65-Jährige mit seiner Arbeit als Pfarrer und Organisator der Friedensgebete zum Sturz des SED-Regimes und damit zum Umbruch in der DDR wesentlich beigetragen hat.
In den 1970er Jahren betrieb Wonneberger als Pfarrer der Dresdner Weinbergsgemeinde ein offenes Ju­gendzentrum. Ab 1977 berät er junge Männer, die nicht zur Armee wollen. Doch er möchte mit seiner Arbeit mehr Menschen erreichen und gründet, während das Militär die Gesellschaft immer tiefer durchdringt, im Jahre 1979 die DDR-weite Initiative "Sozialer Friedensdienst" (SoFD). Diese setzte sich für einen Zivildienst in der DDR ein. Doch wie konnte er seine Thesen weiter kundtun, ohne direkt in den Fokus der Stasi zu gera­ten? Da kam ihm die Idee, alles über einen Kettenbrief zu verbreiten. Jeder, der einen solchen Brief bekam, musste diesen vervielfältigen und in die weitere Verteilung geben. Tausendfach verteilen sich somit Wonnebergers Kettenbriefe innerhalb der DDR. Nach dieser Aktion initiiert er dann erste Friedensgebete. Es geht um Abrüstung und Menschenrechte. Als Wonneberger 1985 nach Leipzig umzieht, wird er zum wichtigsten Mentor der Leip­ziger Opposition. Sein Anliegen war immer, "alles öffentlich zu machen". 1987 gründete er als Pfarrer der Lukas-Gemeinde die Arbeitsgruppe "Menschenrechte", was zu Konflikten mit der Kirchenleitung und einer verstärkten Überwachung durch die Stasi führte. Aber als Pfarrer konnte es sich immer etwas mehr erlauben als andere. "Ich war derjenige, der die Kirche immer wieder aufforderte, einen Schritt weiter zu gehen, als die Kirche eigent­lich wollte." Wonneberger wurde daher nicht nur von der Stasi beobachtet, sondern auch von der eigenen Kirche beäugelt. Beide Institutionen sahen eine "rote Linie" des Pfarrers öfters überschritten. Für die Stasi war der Pfarrer ein Staatsfeind, ein "Exponent der PUT", wie es im Stasi-Deutsch hieß, der "politischen Untergrundtätigkeit". Aber auch in den Augen seiner Kirche galt der Pfarrer als ein Problemfall. Denn fast die gesamte Kirchenführung in der DDR plädierte dafür, sich mit dem allmächtigen Staat zu arrangieren, um im Tausch kleine Freiräume zu erhalten. Aber Wonneberger spielte nicht mit. Er wollte nicht nur trösten und helfen, sondern vielmehr Grenzen austesten, Ideen entwickeln und Impulse geben. "Ich wollte transparent machen, dass etwas - und dies ohne Gewalt - geschehen muss." Der Pfarrer verspürt dann mehr und mehr Risse im vermeintlich felsenfesten Staat, vernimmt in Gesprächen mit jungen Unzufriedenen, wie die Substanz des Systems immer mehr bröckelt. Deshalb überschreitet er immer mehr die imaginäre "rote Linie". Als es der Kirchleitung zu riskant erscheint, oppositionelle Basisgruppen zum offiziellen Kirchentag in Leipzig im Sommer zuzulassen, erklärt Wonneberger kurzerhand den Kirchenbereich zum Ort eines "Statt-Kirchentages" und macht diesen zum Zentrum der Bürgerrechtler. Ab dem 4. September 1989 finden im Anschluss an die Friedensgebete Montagsde­mon­stra­tionen statt. Während sich Polizei und Stasi beim ersten Mal noch zurückhalten - west­li­che Medienvertreter sind anwesend - schlagen sie am 11. und am 18. September zu und kes­seln die Demonstranten ein. Es gibt Verhaftungen und sogenannte Zuführungen. 
Doch die Menschen lassen sich nicht entmutigen. Immer mehr Leute gehen auf die Straße. "Die Zeit war einfach da, etwas zu ändern. Das Volk hatte es satt mit dem Regime", so der Referent. Nach dem Friedensgebet am 25. September 1989 schließen sich mehr Menschen dem Demonstra­tions­zug an als je zuvor: rund 7000 sind es an diesem Montag. Damit hatte die Stasi nicht gerechnet; deren Taktik einer Einkesselung lässt sich nicht mehr anwenden. Die Zahl der Demonstranten steigt und steigt. Der 25. September 1989 erhält in der Geschichte der Leipziger Montagsdemonstrationen eine besondere Bedeutung. Pfarrer Wonneberger predigt in der Leipziger Nikolaikirche: "Wer Gewalt übt, mit Gewalt droht und sie anwendet, wird selbst Opfer der Gewalt. Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen...Wer einen Gummiknüppel schwingt, sollte besser einen Schutzhelm tragen. Wer andere blendet, wird selbst blind. Wer andere willkürlich der Freiheit beraubt, hat bald selbst keine Flucht­wege mehr." Die Gebete für Gewaltfreiheit als Mittel politischer Auseinandersetzungen übertragen sich schnell und werden Parolen auf der Straße: "Keine Gewalt!" rufen später die Demonstranten in der ganzen DDR. Am Abend des 9. Oktober 1989 berichtet Wonneberger per Telefon in den ARD-Tages­themen über die Demonstration in Leipzig mit über 70.000 Teilnehmern. Die sicherlich entscheidende Demonstration war friedlich geblieben, der Staat vor der Menge zurückge­wichen, die immer wieder den einen Satz skandierte: "Wir sind das Volk" und damit die Menschen auf der Straße und die Uniformierten meinte und ansprach. Immer mehr Flugblätter kamen in den Umlauf. "Diese herzustellen war nicht einfach", so Wonneberger weiter. Eine befreundete Kirchengemeinde im Westen wurde kontaktiert, die dann eine Druckmaschine anbot. Doch wie sollte diese den Weg vom Westen in den Osten schaffen? "Die Druckmaschine wurde im Westen dann in viele Einzelteile zerlegt und in der Adventszeit in Päckchen an ein Seniorenheim im Osten verschickt. Nach dem Zusammenbau der Maschine hatten wir dann eine wertvolle Hilfe beim Druck weiterer Flugblätter."
Die so richtig in Gang gekommene historische Bewegung trägt vor allem das "Gesicht" von Christoph Wonneberger. Die friedliche "Revolution" 1989 hatte keinen direkten Anführer. Vielmehr war es ein selbst­ständiges Netzwerk. Das habe die Stasi nie begriffen. "Der herausragende Kopf, die Stimme im Netz­werk war Christoph Wonneberger", bekundete Pfarrer Holger Banse. Er habe das Risiko selbst tragen müssen, so Wonneberger. "Als Pfarrer war ich schon etwas mehr geschützt als andere, deshalb musste ich ja auch mehr machen als die anderen." Den Fall der Mauer erlebt Wonneberg - der von der Stasi als feindlich-negativ erfasst worden war - dann nicht bewusst mit. Zu dieser Zeit liegt er wegen eines am 30. Oktober 1989 erlittenen Schlaganfalls im Krankenhaus und hat seine Stimme verloren. Erst später wird klar, was vor allem Wonneberger und Gleichdenkende auf den Weg gebracht haben. Ohne Wonnebergers Enga­ge­ment hätte es wohl weder die Friedensgebete noch die Montagsde­mon­stra­­tionen in dieser Form gegeben. Und trotzdem wurde er "fast" vergessen; Dank und Anerkennung erhielten Andere. 1991 wurde Wonneberger von der Kirchenleitung gegen seinen Willen in den Ruhestand versetzt. 1995 erhielt er das Bundesverdienstkreuz, am 26. November des vergangenen Jahres in der Rubrik "Stille Helden" den Bambi, Deutschlands wichtigsten Medienpreis.
Mit in die Talkrunde "einklinken" konnten sich auch die Anwesenden. Eine der Fragen betraf die Einsicht Wonnebergers in seine Stasi-Akte. In dieser habe er vieles entdeckt, was ihm gar nicht so bewusst gewesen sei. Augenzwinkernd merkte er an: "Ich habe ja schließlich kein Tagebuch geführt." Sichtlich bewegt stellte er dann fest: "Die Stasi-Akte dokumentierte in vielen Einzelheiten, wie ich und meine Familie in diesen Jahren doch umzingelt waren."
Die musikalische Umrahmung des informativen und kurzweiligen Neujahrsempfangs lag in Händen von Simone Weitershagen (Flöte) und Nicole Schlosser (Klavier), die mit verdientem Beifall bedacht wurde. (Rolf-Dieter Rötzel)
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Pfarrer Holger Banse (rechts) und Christoph Wonneberger unterhielten sich über den Beginn der Montagsdemonstrationen in Leipzig bis hin zur friedlichen Demonstration im Herbst 1989. In der Bildmitte die immer Wonneberger begleitende Fahne "Schwerter zu Pflugscharen". Fotos: Rolf-Dieter Rötzel



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