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Nachricht vom 01.05.2011
Region
Unbequeme Wahrheiten mutig ausgesprochen
Der Vorsitzende der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB)in der Diözese Trier, Günther Salz, sprach zum Tag der Arbeit auf Einladung des DGB-Kreisverbandes. Diese Rede bot nachdenkenswerten Zündstoff, für die Gewerkschaften und die politischen Parteien - aber auch für die Menschen, die sich mit den Zuständen in diesem Land nicht abfinden wollen. Salz sprach unbequeme Wahrheiten aus, die leider allzu oft von den Gewerkschaften und den Parteien unter den Teppich des "Political Correctness" gekehrt werden.
Der KAB-Vorsitzende der Diözese Trier, Günther Salz, sprach zum Tag der Arbeit unbequeme Wahrheiten deutlich und mutig aus. Foto: Helga WienandSteinebach-Bindweide. Günther Salz, KAB-Vorsitzender in der Diözese Trier war Gastredner der Maikundgebung im Landkreis Altenkirchen. Salz trat nach Ausbildung und Studium am 1. Mai 1980 in die Gewerkschaft ein. Er arbeitete 12 Jahre als Sozialarbeiter in einem Armen- und Arbeiterviertel. Von 1993 bis Ende letzten Jahres war er Geschäftsführer der Liga der Wohlfahrtsverbände in Mainz und ist seit 1992 in der KAB. Seit 2004 ist Salz Vorsitzender des Diözesanverbandes Trier und vertritt rund 3000 Mitglieder im nördlichen Rheinland-Pfalz und im Saarland.
Die Auszüge der Rede zum 1. Mai 2011 in Steinebach- Bindweide:
"Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst mich nun auf den heutigen Tag der Arbeit zu sprechen kommen. Für mich ist der 1. Mai nicht nur ein Tag der Demonstration von Arbeitnehmer-Interessen, ein Tag des Zusammenkommens und des Feierns, sondern auch ein Tag des Nachdenkens über Arbeit im gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang. Das möchte ich gerne heute versuchen.
Dabei konzentriere ich mich auf ein Phänomen, dass unsere Arbeitswelt mehr und mehr kennzeichnet: Die Prekarisierung der Arbeit und die Rückkehr der Armut vom Rand in die Mitte der Gesellschaft.
Ganze Nationalökonomien innerhalb und außerhalb von Europa geraten ins Trudeln, die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, ebenso wie der Hunger in der Welt. Nach dem Niedergang des Real-Sozialismus fallen weitere, bislang für stabil und unveränderlich gehaltene Despotien wie in Tunesien, Libyen und Ägypten. Ganze Staatsgebilde zerbröseln und manche Staatsorgane mutieren zu Räuberbanden.

Räuberbanden? Die kennen wir doch auch!
Auch hierzulande werden Reiche reicher und die Armen zahlreicher. Auch hier lösen sich überkommene Strukturen auf: Die sogenannten „Normalarbeitsverhältnisse“ ebenso wie der paritätisch finanzierte Sozialstaat und eine menschenwürdige Sozialhilfe. Auch bei uns nimmt die Ungleichheit zu, wächst die Kinderarmut und droht eine neue Altersarmut. Dazwischen nistet sich die neue Armut ein: nämlich die Armut trotz oder durch Arbeit. Armut ist kein Randgruppenphänomen mehr. Jeder 7. Einwohner von RLP – etwa 500.000 Menschen - sind einkommensarm. In Deutschland sind es etwa 14 Millionen, also etwa jeder 6. Es wären eigentlich sogar jeder 4. (26%), hätten wir nicht die umkämpften Reste der sozialen Sicherung.
(...)
Neben den großen Krisen mehren sich die kleinen und da wirken sich die Brüche und Risse der Arbeitswelt auch auf die Lebenswelt aus: da wird ein Mensch arbeitslos oder umgekehrt – krank durch zuviel Arbeit. Da wird jemand als „Minderleister“ heruntergestuft oder outgesourct oder als Langzeitarbeitsloser von der ARGE sanktioniert, da zerbrechen Familien oder Beziehung an der geforderten Mobilität und Flexibilität, da werden Kinder hin- und hergerissen, vernachlässigt, und in ganz schlimmen Fällen auch mißbraucht und manchmal sogar umgebracht.
Die Arbeitswelt, aber auch die Lebenswelt wird unsicher, prekär. Hier werden Menschen in ihrem Lebensnerv und ihrer Selbstachtung getroffen. Dabei wissen wir doch, wie wichtig den Menschen die Erwerbsarbeit ist. Nicht nur weil sie für die Mehrheit der Bevölkerung die einzige oder überwiegende Lebensgrundlage ist, sondern auch, weil man sich in ihr verwirklichen, sich als tatkräftiges und gesellschaftliches Gattungswesen erfahren will. Zugleich erwarten wir über die Arbeit soziale Sicherheit, Anerkennung, gesellschaftliche Integration und eine persönliche und familiäre Lebensperspektive.
(...)
Die Bedeutung der Erwerbsarbeit haben viele Kenner der Materie betont. Viele von Euch werden sich auch an das Plakat der SPD im Europawahlkampf 1994 erinnern, auf dem nur 3 Worte standen: „Arbeit, Arbeit, Arbeit“. Arbeiten und Mensch sein – das ist eins!
Aber was ist aus unserer Arbeit geworden, wenn sie heute im Kontext von Niedriglohn, Armut, Arbeitslosigkeit und Armenspeisung gesehen werden muss.
Was ist aus der Idee von Karl Marx vom „Reichs der Freiheit“ geworden, das auf der Grundlage eines rationell und vernünftig geregelten „Reichs der Notwendigkeit“ aufblühen soll?
Ist nicht der Ruf der Arbeiterinnen, nach Brot und Rosen, eines anderen Liedes der Arbeiterbewegung ungehört verhallt, wenn man weiß, dass die Hauptbetroffenen der prekären Arbeit Frauen sind? Was wurde aus den Hoffnungen der revolutionären Arbeiterbewegungen auf den Aufstieg aus dem „dunklen Vergangenen“, hinein in eine „leuchtende Zukunft“ (Brüder zur Sonne zur Freiheit) angesichts der weltweiten Prekarisierung der Arbeit?
Was ist passiert seit den 1950er Wirtschaftswunderjahren, in denen Helmut Schelsky von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ sprach, während vor kurzem noch eine heftige Diskussion über eine „neue Unterschicht“ und ein „abgehängten Prekariat“ entbrannte? Wie kommt es, dass viele Erwerbstätige von ihrem Lohn nicht leben und erst recht keine Familie unterhalten können? Wie unerfüllt muss uns KAB'lern unser Gebet vorkommen, in dem es heißt: „Dein Reich komme in die Fabriken, die Werkstätten, die Büros und in unsere Häuser … Dein Reich komme durch uns und unsere Arbeit“, wenn wir unsere Umwelt und uns selbst zerstören, weil wir in den Zwängen der Kapitalverwertung befangen sind!?
Statt der neuen sozialen Frage eines Heiner Geißler aus den 1970er Jahren, ist die alte soziale Frage des 19. Jh, die Arbeiterfrage als Klassen- und Systemfrage mit Macht wieder aufgetaucht.

Erscheinungsformen der Prekarisierung
Denn die Armut betrifft nicht mehr nur „Randgruppen“ wie Obdachlose, Suchtabhängige, Brennpunktbewohner, ethnisch-Marginalisierte oder stadtbekannte Ortsarme, Eckensteher, Flaneure, Lazzaroni und Aussteiger, sondern auch den langzeitarbeitslosen Ingenieur, die akademisch gebildete Alleinerziehende, das schuftende Fabrik- und Dienstleistungspersonal, den entrechteten Leiharbeiter, den kreativen, aber prekarisierten Klein- oder Internetunternehmer und mit der Kurzarbeit auch Teile der Kernbelegschaften des „Modells-Deutschland“. Ganz normale Renterinnen und Rentner stehen an den Tafeln an oder machen sich täglich als Flaschensammler auf den Weg.
Vor allem das Einkommensverhältnis zwischen Kapital und Arbeit, hat sich zuungusten der Arbeit verschoben: In der Zeit von 1991-2007 stiegen die Gewinn- und Vermögenseinkommen von 29 % auf 35 % an; die Arbeitnehmereinkommen (also die Lohnquote) ist in der gleichen Zeit jedoch von 71 % auf 65 % gefallen. Und das sind nicht einfach nur Zahlen. Sie belegen die derzeitige Schwäche der Gewerkschaften. Und sie haben eine enorme Bedeutung für das Leben der Menschen. Die Schere zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen, zwischen reich und arm, schneidet wirklich Lebensmöglichkeiten für die Unterlegenen ab. Sie führt bei den einen zu Luxus und Macht und bei den anderen zu Mangel und Ohnmacht. Das muss anders werden, Kolleginnen und Kollegen!

Auch der im letzten Jahr erschienene 4. Landesarmuts- und Reichtumsbericht Rheinland-Pfalz geht auf die Prekarisierung der Arbeitswelt und das neue Phänomen der Armut trotz Erwerbsarbeit ein. Zwar sind Erwerbslose bei einer Armutsgefährdungsquote von 53 % sehr viel stärker vom Armutsrisiko bedroht als es die Erwerbstätigen mit 7,4 % sind. Dennoch schützt Arbeit nicht mehr vor Armut.
Während bundesweit etwa 1,35 Mio. auf zusätzliche Leistungen aus dem SGB II – also Harz IV - angewiesen sind, waren es 2008 in Rheinland-Pfalz immerhin 46.800 Personen. Hiervon waren 25.500 geringfügig beschäftigt und 14.300 (also 30 %) vollzeitbeschäftigt!
Die letzte Landesregierung bewertet die Tatsache, dass selbst eine Vollzeitbeschäftigung nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu sichern, als „sozialen Missbrauch“ durch Unternehmen. Recht hat sie. Allerdings bräuchte sie keine Krokodilstränen zu weinen, wenn sie bei der Einführung von Hartz IV kritischer gewesen wäre. Wir werden die neue Landesregierung auch daran messen, was sie gegen die Prekarisierung der Arbeit tut.
(...)
In das Spektrum der prekären Arbeit gehören auch die sog. 1-Euro-Jobs, zu denen die Betroffenen bei Androhung empfindlicher Sanktionen gezwungen werden. In den letzten Jahren haben jeweils etwa 750.000 Personen solche Jobs angetreten, die offiziell Arbeitsgelegenheiten genannt werden und besser als Arbeitsverlegenheiten bezeichnet werden müssten. Sie stehen außerhalb des Betriebsverfassungsgesetzes und des kollektiven Arbeitsrechts als ein öffentlich-rechtliches Zwangsbeschäftigungsverhältnis eigner Art. Sie sehen keinen sozialen Schutz vor. Durch ihren Einsatz in Kommunen und den Einrichtungen freier Träger haben sie viele feste Arbeitsplätze verdrängt. Das wird wohl auch so sein, wenn demnächst die sog. „Bürgerarbeit“ in die Kommunen Einzug hält.
Das man Menschen mit außerrechtlichen Beschäftigungen auf billigstem Niveau oder Niedriglöhner mit sittenwidrigen Löhnen „integrieren“ will ist ein Skandal und gehört abgeschafft.
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Zu den a-typischen bzw. prekären Beschäftigungsverhältnissen zählen auch die sog. Minijobs, deren Zahl sich im Juni 2009 auf fast 7 Mio. Beschäftigungsverhältnisse bundesweit belief. In Rheinland-Pfalz war die Zahl der Minijobs von 345.000 im Jahre 2004 auf etwa 378.000 im Jahre 2007 gestiegen. Während die Minijobs überwiegend von Frauen ausgeübt werden, wird die Leiharbeit eher von Männern getan.
Besonders problematisch ist die Leiharbeit. Seit der Liberalisierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes 2003 hat sich laut DGB die Zahl der Leiharbeitskräfte fast verdoppelt. Das aktuelle „Wunder am Arbeitsmarkt“ erklärt sich gerade auch durch den Boom der Leiharbeit. Bis zur Krise war die Zahl der LeiharbeiterInnen auf 800 000 angewachsen. In der Krise wurden 300 000 entlassen und jetzt sind es wieder mehr als 1 Million Menschen.
Längst geht es bei der Leiharbeit nicht mehr um das Auffangen von kurzfristigen Auftragsspitzen; stattdessen setzt sie zunehmend die Stammbelegschaften unter Druck und bedroht die bestehenden Dauerarbeitsplätze.

Forderungen
Kolleginnen und Kollegen: So weit lassen wir es nicht kommen. Wir fordern dagegen: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort! Wir machen die Spaltung von Belegschaften und die Spaltung zwischen den Geschlechtern nicht mit!
Im Interesse der Frauen: Abschaffung der geringfügigen Beschäftigung zugunsten eine sozial abgesicherten Teilzeitbeschäftigung!
Wir fordern Mindestlohn statt Niedriglohn – wir wollen, dass abhängig Beschäftigte – und am liebsten auch ihre Kinder - von ihrer Arbeit anständig leben können! Nur Kolleginnen und Kollegen, dann muss der Lohn auch wirklich armutsfest sein. 8,50 Euro reicht dafür nicht – erst recht nicht, wenn er für eine Familie reichen soll. Als KAB fordern wir daher einen Mindestlohn von 9,20 Euro – das läge gerade an der europaweit fest gesetzten Armutsgrenze von 60 % des Durchschnittseinkommens – und zwar für einen Einzelnen. Arbeit soll aber Armut vermeiden. Warum fordern wir also nicht mindestens 10 Euro!? Und auch der würde nicht für eine Familie reichen!
Ein ausreichender Familienleistungsausgleich gehört also auch dazu! Den müßte eigentlich das Kapital bezahlen und nicht der Staat.
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Wir müssen aber auch an die denken, die im offenen Strafvollzug von Hartz IV und seinem Arbeitszwang leben. Weil Arbeit zum Menschsein gehört und Teil seiner Persönlichkeit ist, darf sie nicht erzwungen werden. Deshalb weg mit dem Arbeitszwang für Langzeitarbeitslose und Beschaffung eines Angebots an öffentlich-geförderter Beschäftigung, die den Maßstäben von „Guter Arbeit“ genügt.
Und noch eines ist wichtig: Die Regelsätze nach Hartz IV wirken als eine Art Lohnsockel. Deshalb haben Arbeitnehmer und Arme ein gemeinsames, objektives Interesse an bedarfsgerecht hohen Regelsätzen und entsprechend hohen Mindestlöhnen. Wir wissen doch: bisher waren nicht die Regelsätze zu hoch, sondern die Löhne zu niedrig. Deshalb ist ein Lohnmindestgebot in Höhe von 10 Euro die Stunde und ein Regelsatz von 450 – 500 Euro zu fordern. Das würde beiden Gruppen helfen, den Armen und den ArbeiterInnen.
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Geld zu machen, das ist das Alpha und das Omega des Kapitals – und das möglichst immer und ewig und in immer größerem Umfang. Denn das Kapital kann sich nur erhalten, in dem es sich ausdehnt. In der Medizin nennt man etwas, das sich nur erhalten kann, wenn es sich ausdehnt, einen Krebs. Und in der Tat: Die rastlose Mega-Maschine Kapital versucht, sich alles einzuverleiben, was sie noch nicht, oder noch nicht ganz unterworfen hat: Die Meere und den Himmel, die noch unbebaute Erde, die Bodenschätze und die noch freie Zeit der Menschen: Den freien Abend, den freien Samstag und den freien Sonntag, die öffentlichen Güter und am Ende Körper und Geist der Menschen. Auch vor dem Erbgut der Menschen macht das Kapital nicht halt. Schon ist vom „Biokapitalismus“ die Rede. Sogar die Psyche wird zu Kapital: Arbeiterinnen und Arbeiter sollen zu Unternehmern ihrer eigenen Arbeitskraft im Dienste des Kapitals und der Standortkonkurrenz werden.
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Dem Kapital geht es nicht um Arbeitsplätze oder die Befriedigung von Bedürfnissen durch Gebrauchsgüter, liebe Kolleginnen und Kollegen. Für das Kapital sind Arbeit und Bedürfnisse nur Mittel zum Zweck der Kapitalvermehrung.
Diese irrsinnige Verkehrung und Zwecksetzung produziert eine verselbständigte Dynamik, die den Menschen als eine unbeherrschbare Macht gegenübertritt. Das zeigt sich an der fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen ebenso wie am Raubbau an der menschlichen Arbeitskraft, aber auch daran, dass nach der Krise der Wirtschaft und Finanzen so weitergemacht wird wie bisher: Man will nur irgendwie die Kapitalakkumulation aufrecht erhalten und am liebsten noch gestärkt aus der Krise kommen.
Die Zauberlehrlinge des Kapitals - also die Schröders, Merkels, die Ackermänner und die Brüderles - tanzen munter um die Kapitalmaschine herum und ölen sie mit Milliardenbeträgen von Geld, ohne sich am Knirschen in ihrem Inneren zu stören.
Rolle und Funktion des Staates
Hierbei wurde der als Ersatz für die historische Enteignung erkämpfte Sozialstaat, der die Durchgriffsmacht des Kapitals etwas begrenzt hatte, ausgerechnet durch Sozialdemokraten - aber auch Grüne - geschleift. Nichts anderes hatte die Agenda 2010, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und das Fördern und Fordern im Sinn. Mit der Schaffung eins breiten Sektors von Elendsarbeit, mit Mini- und Midi-Jobs, Ich-AGs, 1-Euro-Jobs, mit Leih-und Zeitarbeit, mit Niedrig- und Tagelohn, mit der Deregulierung des Arbeitsrechts und verschärften Mitwirkungspflichten sowie einem sanktionsbewehrten Arbeitszwang ist ihm dies auch gelungen.
Mit der Agenda 2010 und Hartz IV wurde das sozialdemokratisch-konservative Versprechen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, mittels Arbeit und Sozialversicherung der Armut zu entfliehen, zurückgenommen: Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe zerschnitt man die Nabelschnur zur Arbeitslosenversicherung und deklassierte die Betroffenen zu Fürsorgeempfängern. Das war ein Schock für viele Arbeiterinnen und Arbeiter. Mit Hartz IV kehrten auch die repressiv-paternalistischen Formen der Armenhilfe der Vergangenheit, in Form von Leih- und Pflichtarbeit, Kombilohn und Arbeitstest und am Ende in der Erscheinung der Armenspeisung zurück. Mit Brosamen abgespeist zu werden, beschämt die Armen und untergräbt ihre berechtigten Forderungen nach einer bedarfsgerechten Erhöhung der Regelsätze. Die Tafeln untergraben aber auch die Forderungen der Arbeiter nach höheren Löhnen – denn wenn die Regelsätze durch die Entlastung mittels der Tafeln niedrig bleiben, bleiben es auch die Löhne. Umso verwunderlicher, dass der Chef der deutschen Tafeln ein Gewerkschafter ist!!
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Kolleginnen und Kollegen – es ist pervers: Während der neue Staat das Ehrenamt und den Bettel fördert, fordert er die Arbeitslosen und geht, wenn es sein muss, aufs Ganze: Wer seinen autoritären Ansprüchen auf Aktivierung und Gegenleistung durch Arbeit zu jedem Preis - und wenn es sein muss auch zu sittenwidrigen Löhnen - nicht gehorcht, wird mit Hilfe der Sanktionen nach § 31 SGB II weit unter das sozio-kulturelle Existenzminimum gedrückt.
Kolleginnen und Kollegen: Begreifen wir endlich den Zusammenhang von Armen- und Arbeiterfrage! Seien wir solidarisch mit den Armen, nicht nur weil wir selbst schon morgen arm sein können, sondern weil wir gemeinsame Interessen haben und als Lohnarbeiter im gleichen Boot sitzen.
Handlungsmöglichkeiten
Begreifen wir aber auch den Zusammenhang von Einzelnem und Ganzem, von Rand und Mitte. Ich habe versucht zu zeigen, dass unser Reichtum die Armut der Lohnarbeit zur Voraussetzung und die faktische Armut und Prekarisierung zur Folge hat. Deshalb ist es nur allzu verständlich, dass wir auf den Verfall der Löhne mit einem gesetzlichen Mindestlohn, auf die Leiharbeit und die niedrigeren Frauenlöhne mit Equal Pay und auf die Prekarisierung der Erwerbsarbeit mit der Kampagne zur „guten Arbeit“ reagieren. Richtig auch, dass der Sozialstaat erhalten und wieder aufgebaut wird.
Bloß werden wir mit „guter Erwerbsarbeit“ im klassischen Sinn und besserer Verteilung noch nicht die „absolute Armut der Lohnarbeit“ und die Verzweckung der Menschen als Mittel zur Geldvermehrung und die damit einhergehende mörderische Eigendynamik des Kapitalismus los …
Angesichts solcher Entwicklungen und Zusammenhänge muss es uns um’s „Ganze“ gehen. Und wenn es ums Ganze geht, kann es nicht nur das Mindeste sein, das wir zu fordern haben. Wir wollen mehr. Wir wollen die Aufhebung der Armut der Lohnarbeit ebenso, wie die Schöpfung eines anderen Reichtums und eine Neuverteilung der Produktionsmittel. Dann geht es nicht nur darum, „Arbeit“ zu haben, sondern sie für einen sinnvollen, selbst bestimmten und menschenfreundlichen Zweck einzusetzen. Dann gilt es, der zerstörerischen Logik des Kapitals unsere eigenen, menschlichen Bedürfnisse entgegenzustellen, unsere Sache in die eigene Hand zu nehmen und Neues zu wagen. Neues wagen! Das ist leichter gesagt als getan.
(...)
Besinnen wir uns dabei auf unsere Werte und Kräfte: Unsere Solidarität, unsere Fähigkeit zum Mit-Leiden, unsere Kampferfahrungen und unsere Phantasie.
Besinnen wir uns auf wertvolle Traditionen: z.B. die Arbeiter- Kultur- und Jugend-bewegung, die der bürgerlichen Kultur etwas entgegen zu setzen hatte: eigene Lieder, eigene Vorstellungen vom Zusammenleben, eigene Bildungsansätze;
besinnen wir uns auf Erfahrungen mit Veränderungen.
Nehmend wir die Zeichen der Zeit wahr und bauen die Wirtschaft und Versorgung ökologisch und regional um; schaffen wir eine neue Subsidiariät z.B. mit Hilfe von Genossenschaften, Bürgerhaushalten, selbstverwalteten Betrieben, lokale Ökonomien usw.
All das wird anstrengend, mühsam, aber auch lohnend sein. Auf diesem Weg brauchen wir Kraft und Inspiration. Mir fallen da die Inspirationen aus der Bibel ein.
Und da kommt zu allererst die Idee und Praxis des Sabbats und des Sonntags.
Denn im jüdischen Sabbat- und im christlichen Sonntagsgebot ist die Befreiung von aller Unterdrückung aufgehoben. Ihr Kern ist die Befreiung von fremdbestimmter Arbeit.
Die Redaktion hat in Abstimmung mit Günther Salz die Rede gekürzt und dies gekennzeichnt, (...).
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