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Nachricht vom 28.01.2012
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"Reichtum ist gewollt. Armut auch!"
Im Rahmen der Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“ begrüßte Landrat Michael Lieber im Kreishaus in Altenkirchen zahlreiche Gäste aus Politik, Kirche und Gesellschaft. Unter der Aussage „Reichtum ist gewollt. Armut auch!“ plädierte Prof. Dr. Franz Segbers, Sprecher der Landesarmutskonferenz Rheinland-Pfalz, für eine gerechte Verteilung.
Ein Plädoyer für eine gerechte Verteilung von Reichtum und Armut im Rahmen der Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“ führte zahlreiche Gäste in die Kreisverwaltung in Altenkirchen. Sprecher der Landesarmutskonferenz Rheinland-Pfalz, Prof. Dr. Franz Segbers (links) und Landrat Michael Lieber. Fotos: Bianca KlüserAltenkirchen. Anlässlich der von Kreishaus und Kreissparkasse Altenkirchen veranstalteten Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“, die vom 23. Januar bis 9. Februar 2012 im Kreishaus und der Sparkasse Altenkirchen stattfindet, begrüßte Landrat Michael Lieber eine Vielzahl von Gästen zum Vortrag von Prof. Dr. Franz Segbers, Sprecher der Landesarmutskonferenz Rheinland-Pfalz.
Dieser plädierte unter der Aussage „Reichtum ist gewollt. Armut auch!“ für eine gerechte Verteilung. Im Anschluss wurde zur Diskussionsrunde sowie zu einer Führung durch die Ausstellung mit Kurator Andreas Pitz eingeladen.
Landrat Michael Lieber eröffnete die Veranstaltung und bedankte sich bei den Gästen für ihr zahlreiches Erscheinen. Dies zeige ein reges Interesse an diesem Thema und würde für ein gutes Gelingen des Abends sorgen, so Lieber. Er hieß außerdem den Referenten Prof. Dr. Franz Segbers, der auf Initiative des Caritasverbandes Altenkirchen das Rahmenprogramm mit seinem Plädoyer bereichere, sowie den Kurator der Ausstellung, Andreas Pitz, herzlich willkommen.
Als kleines Dankeschön überreichte Landrat Michael Lieber dem Referenten Prof. Dr. Franz Segbers, der im Kreis Altenkirchen auch bekannt wurde durch seine Aktivität im Rahmen des Projektes „Daadetalbahn“, als kleines Präsent August Sanders Buch „Menschen und Landschaften zwischen Sieg und Westerwald“.

Dann startete der Referent Prof. Dr. Franz Segbers mit seinem Plädoyer für eine gerechte Verteilung von Reichtum und Armut. Gleich zu Beginn erklärte er, dass ihm sehr wohl bewusst sei, wie provokativ die Aussage seines Vortrags sei und welcher Skandal, nämlich der, dass Reichtum, aber auch Armut, politisch gewollt seien, damit einhergehe. In diesem Zusammenhang verwies er auf Stefan Hessels Buch „Empört euch“, das zur Sprache gebracht habe, was viele Menschen in der Gesellschaft bereits spüren: die Ungerechtigkeit. Im Folgenden erläuterte er anhand von 7 Thesen das Verhältnis und Zusammenspiel von Reichtum und Armut in der heutigen Zeit und welche Rolle die Politik dabei spiele.

1. These: Armut war weithin überwunden. Sie kehrt zurück.
Segbers startete mit dem Verweis auf den Armutsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2008, in dem festgestellt worden sei, dass Altersarmut kein akutes Problem mehr darstelle. „Nun aber drohen Millionen Rentnerinnen und Rentner in Armut abzurutschen“, so Segbergs und benannte mit dem Wechsel der Rentenpolitik sogleich die Ursache. Rentenkürzungen und nicht zuletzt die Streichung des fiktiven Einkommens in der Rentenversicherung Langzeitarbeitsloser im Rahmen des Europäischen Jahres gegen Armut und Ausgrenzung haben dazu geführt, dass bereits heute 16 Prozent der älteren Bürger in Armut leben. „Armut fällt nicht vom Himmel. Armut ist politisch gemacht und ökonomisch gewollt“, sagte Segbers. Gleichzeitig stehe für ihn fest, dass die Politik in der Lage sei, die Armut auch erfolgreich zu bekämpfen, dazu müsse allerdings endlich einmal etwas geschehen. Weiter verwies er auf die langwierige Überzeugung der Menschen von einem Leben in einer Aufzugsgesellschaft, in der man davon ausging, dass es allen insgesamt besser gehe, sowohl den Reichen als auch den Armen. Die heutige Realität sehe jedoch anders aus: während es für die einen nun aufwärts gehe, rutschen die anderen immer weiter nach unten.

„Aus der Aufzugsgesellschaft ist eine Paternostergesellschaft geworden“, so Segbers. Während in den 80ern Arbeitslosigkeit der Hauptgrund für Armut gewesen sei und in den 90ern Kinderarmut im Mittelpunkt gestanden habe, sei seit der Jahrtausendwende Arbeit der Hauptgrund für Armut. In diesem Zusammenhang verwies er auf die einstige Forderung des Sozialwortes der evangelischen und katholischen Kirche aus dem Jahr 1997 „Nicht nur Armut, auch Reichtum muss ein Thema der politischen Debatte sein“ sowie auf die Frage, wieso man nicht den vorhandenen Reichtum nutze, um die Armut zu beseitigen.

2. These: In der Definition, was Armut ist, liegt das Problem und die Lösung. Wer Armut als Mangel an Einkommen oder Gütern definiert, der denkt vom Mangel her. Wer Armut als Mangel an Rechten definiert, der fordert mehr Rechte und Selbstbestimmung.
Im Rahmen seiner zweiten These erläuterte Segbers die Definition von Armut. Menschen seien demnach als arm zu bezeichnen, wenn sie über so geringe Mittel verfügen, dass sie von dem in ihrem Land festgelegten Mindeststandard ausgeschlossen seien. Ein Versuch zur Überwindung der Armut sei die Agenda 2010 gewesen, die für gescheitert erklärt wurde. Dennoch hoffe man auf Ihre Nachfolgerstrategie und das damit verbundene Ziel bis zum Jahr 2020 die Zahl der Armen in der EU um 20 Millionen zu reduzieren. Dazu haben EU-Arbeits- und Sozialminister drei Indikatoren festgelegt, die der Definition von Armut dienen sollen. „Arme Menschen sind Bürger, denen Grund- und Menschenrechte vorenthalten werden“, so Segbers, „Mittellosigkeit macht verwundbar, verletzt, nimmt die Anerkennung und verurteilt zu einer Machtlosigkeit im politischen Sinne.“ In diesem Zusammenhang bezeichnet er arme Menschen nicht als Opfer, sondern als „verhinderte Akteure“. Er sehe es als Aufgabe des Staates, diese Rechte zu gewährleisten und zu sichern. Es gebe keinen wissenschaftlich-objektiven Begriff von Armut. „Armut ist ein Mittel, den Reichtum zu vermehren“, erläuterte er. Sie bedeute falsch verteilten Reichtum und falsch verteilte Macht. Deshalb sei es unabdingbar über Armut zu reden, ohne dabei auch über Reichtum zu reden.

3. These: Die Finanz- und Wirtschaftskrise und die soziale Krise, dass es Armut und Arbeitslosigkeit in einem reichen Land gibt, sind die beiden Seiten der gleichen Medaille.
Laut Segbers haben wir es mit einem Krisenbündel zu tun, deren einziger Ausweg der Wechsel von der falschen Politik zu einer, bei der die Menschenrechte im Vordergrund stünden, sei. Der Reichtum sei das Mittel zur Erfüllung der Gewährleistung eben dieser Rechte. Weiter bezeichnete er die Gesellschaft als tief gespalten: Wer viel Vermögen habe, vermöge viel zu bewirken, während die Nichtvermögenden mittelos und ausgeschlossen seien. Im Vergleich zu den übrigen Ländern Europas sei in keinem anderen Land ein so radikaler Anstieg von Armut zu verzeichnen wie in Deutschland. Ausschlaggebend dafür seien in erster Linie zwei Umverteilungsprozesse: die Hartz-Reformen sowie die Reduzierung der steuerlichen Belastung für hohe Einkommen und Unternehmen. Der Reichtum diene immer weniger dazu, allen zu Wohlstand zu verhelfen. Die Politik begünstige nach wie vor die Reichen. Politiker seien sich außerdem nicht im Klaren darüber, wie sehr sie unter dem Einfluss der Finanzmärkte stehen.

4. These: Wir brauchen eine Erneuerung des sozialstaatlichen Diskurses. Der Sozialstaat ist der Schlüssel zur Regulierung des Finanzmarktkapitalismus.

Die Krise zeige, so Segbers, dass Solidarität und Gerechtigkeit nicht mehr als Leitorientierung gelten. In diesem Zusammenhang verwies er auf die Frage „Wie wollen wir leben?“. Dazu müssten einzelnen und gesamtgesellschaftliche Interessen gegeneinander abgeglichen werden, sodass eine erneute Spaltung von arm und reich vermieden werde. In Bezug auf Deutschland sei zu sagen, dass es sich um einen Ort handle, wo Menschen leben und nicht um eine möglichst profitabel zu gestaltende Investitionsstätte.

5. These: Maßstab ist Gerechtigkeit: Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.Der Feldzug gegen Wohlfahrts- und Sozialstaat müsse gestoppt werden, so Segbers. Der Sozialstaat gehöre zum Kostbarsten, was die Republik geschaffen habe. Er diene als Schutz vor dem Kapitalismus. „Der eine wird mit dem silbernen Löffel geboren, der andere in irgendeiner Hochhaussiedlung“, erläuterte er. Der Sozialstaat biete nicht nur eine Möglichkeit zum Ausgleich der vom Schicksal gegebenen ungerechten Verteilung, er gewährleiste Bedürftigen auch den Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. In diesem Zusammenhang verwies Segbers auf den Satz: „Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.“ Eine Reformpolitik müsse sich daher mit der Aufgabe konfrontiert sehen, dazu beizutragen, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern.

6. These: Der Sozialstaat ist mehr als ein Almosenstaat für die Bedürftigen. Er steht für eine gerechte Ordnung der Gesellschaft, setzt auf sozialen Ausgleich durch staatliches Handeln und nimmt die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft dafür in Anspruch.
Der Sozialstaat diene nicht nur der Fürsorge für Benachteiligte, so Segbers, sondern auch dem Abbau der strukturellen Ursachen für Benachteiligung. Er strecke allen, die ihn brauchen, eine helfende Hand aus. Sowohl bürgerliche als auch soziale Freiheitsrechte seien von ihm zu gewährleisten. Der Staat habe seine damit verbundene Pflicht zur Gewährleistung eines Lebens in Würde stark vernachlässigt. „Auch so viele engagierte Bürger können mit noch so vielen Tafeln einen Sozialstaat nicht ersetzen“, steht für ihn fest.

7. These: Die Reformen, die anstehen. Nicht die bloße Reparatur von Krisenschäden, sondern ein Neustart jenseits des Finanzkapitalismus scheint die angemessene Antwort auf die Krise zu sein. Es geht um den Ausbau der sozialstaatlichen Grundlegung der Demokratie. Armutsbekämpfung ist möglich, wenn die Reformpolitik die Solidarität ausweitet.
Für Segbers müsse eine Armutspolitik nachfolgende Inhalte berücksichtigen: vor Armut schützen, für alle gleiche Möglichkeit des sozialen Aufstiegs bieten, einen progressiven Steuersatz mit hoher Steuerquote aufweisen, Existenzsichernde Jobs sowie die Verringerung des Niedriglohnsektors gewährleisten, für eine Erhöhung der Frauenerwerbsquote und Vereinbarkeit für Eltern von Arbeit und Familie sorgen, Weiterqualifizierung der auf dem Arbeitsmarkt benachteiligten Personengruppen sichern und bezahlbare Wohnungen bieten. „Der Ausbau des Sozialstaates“, so Segbers, „ist der Schlüssel zur Regulierung des Kapitalismus.“ Der Maßstab für die Überwindung der Krise sei die Überwindung der Armut.

Im Anschluss an sein Plädoyer eröffnete Prof. Dr. Franz Segbers die Diskussionsrunde, die von den anwesenden Gästen gut angenommen und zum regen Austausch mit Referent und anderen genutzt wurde. Dabei kam auch der Altenkirchner Theologe Prof. Dr. Klaus Otte zu Wort, der im Plädoyer Segbers eine Ermutigung als Impuls zum neuen Schritt sehe. Er bezeichnete ihn als Durchbruch, der jedoch viele weitere Prämissen nach sich ziehe. „Politiker und Kirchenleute fordere ich dazu auf, zu merken, dass wir an einer Zeitwende stehen“, so Otte.
Als letzter trat der Kurator der Ausstellung, Andreas Pitz, ans Rednerpult und lud mit den abschließenden Worten, dass die Armut leider im Mittelpunkt der Gesellschaft angekommen sei, zu einer Führung durch die Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“ ein. (bk)
     
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