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Nachricht vom 26.04.2014
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Der Verlorene
Heute brauche ich besonders lange, um über den Titel hinaus in mein Thema zu finden. Eigentlich müsste es mir heute besonders leicht fallen, denn mein Thema ist so persönlich, wie es nur sein kann. Doch wahrscheinlich ist es genau das, was mich zögern lässt.
Um zu wissen, wo es dich hinführt, sollte man wissen, woher man kommt...Ich schreibe heute über meinen Vater. Weil es getan werden muss.

Ich schreibe über meinen Vater, weil ein anderer es nicht getan hat.

Der andere ... ist ein Schriftsteller. Er hat ein Buch geschrieben (das tun Schriftsteller ab und an) und in diesem Buch die Lebensgeschichte seiner Tante, einer der ersten Frauenärztinnen Deutschlands mit einem sehr bewegten Leben, und ihrer drei Kinder verwoben. Die Figuren und Charaktere dieses Buches sind ein erfolgloser Schauspieler, ein vom Erfolg getriebener Anwalt mit Alkoholproblem und ihre “schwachsinnige Schwester“, die im Heim lebt. Drei Geschwister, die innerhalb des Romans ihre Familienvergangenheit durchleben. Drei Geschwister, nur eines fehlt... mein Vater.

Mein Vater war ein Produkt des zufälligen Aufeinandertreffens eines verwundeten Offiziers und einer jungen, aufstrebenden Ärztin im Kriegslazarett. Die Frau mit dem schillernden Leben, die später in Jena promovieren sollte, an der Charite in Berlin als Ärztin arbeitete und schließlich für Jahre in den Orient ging, um dort als Gynäkologin für die Frauen der Scheichs (davon soll es ja viele geben) zu arbeiten, war meine Großmutter. Ihr Mann war zu diesem Zeitpunkt längst in Stalingrad gefallen, trotzdem war die “Bürde“ eines weiteren Kindes wohl zu groß, denn mein Vater wurde in Österreich – wo niemand sie kannte - geboren und anschließend in einem katholischen Kinderheim im Erzgebirge abgegeben. Für alle, die Kriegszeiten und Nachkriegsjahre erlebt haben, wird klar sein, was es 1944 bedeutete, in einem Kinderheim aufzuwachsen.

Es bedeutete Hunger... nach Essen, aber auch nach Liebe, obwohl die Ordensschwester alles für die Kinder taten. Kein Zuhause, dafür das Stigma des Verstoßenen, des Ausgestoßenen, des Ungebrauchten. Lediglich eine erzkatholische Tante hielt es für ihre Christenpflicht, zu dem unehelichen Jungen Kontakt zu halten. Mehr Pflicht als Zuneigung, aber wenigstens ein Bekenntnis. Als Kind stand ich oft lange vor dem einzigen Foto meiner Oma, dieser mir unbekannten Frau, die mir beängstigender Weise sehr ähnlich sah, und hätte es am liebsten von der Wand gerissen und in den nächsten Mülleimer gestopft. So unverständlich war mir, dass jemand meinen von mir so sehr geliebten Vater nicht wollen könne. Ich wurde älter, doch das Unverständnis ist bis heute geblieben.

Warum ich dies alles erzähle? Nun, ich erwähnte es eingangs. Weil ein anderer es nicht getan hat. Weil es jedem von uns gut tut, sich seiner Wurzeln zu erinnern, überhaupt welche zu haben. Weil wir viel zu wenig miteinander über wirklich Wichtiges reden, oder einfach nur zuhören. Weil wir unser eigenes Leben haben und darüber zu oft das anderer, uns nahestehender Menschen vergessen.

Weil genau diese Geschichten uns helfen, unseren eigenen Weg zu finden und herauszufinden, was uns wirklich wichtig ist – die Gewissheit, angenommen und geliebt zu werden.
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