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Nachricht vom 03.12.2020
Region
Bewegend und amüsant: Anekdoten aus Kindheit in den 60ern im Siegtal
Statt materiellem Überfluss abenteuerliche Erlebnisse: In einem autobiografischen Buch nimmt der bekannte Wissener Jürgen Linke seine Leser mit auf eine Reise zu seiner Kindheit in den 60er Jahren. Der Schauplatz: Niederhövels, in dem der Fotograf, Liedermacher und Lokalpolitiker aufwuchs. Aber viele Geschichten werden alten wie jungen Dorfkindern aus ganz Deutschland sehr bekannt vorkommen.
Rund um den Bahnhof in Niederhövels spielte sich auch das Leben ab, insbesondere für den kleinen Jürgen Linke. (Fotos: ddp)  Wissen/Niederhövels. Bewegungsmangel, Konzentrationsprobleme, Leistungsdruck oder sogar Depression – viele der heutigen Kinder und Jugendliche zählen immer mehr zu Problemgruppen. Trotz Smartphone oder der neusten Markenkleidung. Oder gerade deswegen? Sind diese Kinder nun arm oder reich? Oder beides? Welch ein Kontrast zu der facettenreichen Welt, die sich dem Leser auftut, wenn er das Buch von Jürgen Linke aufschlägt. Auf über 200 Seiten erzählt der Wissener Fotograf, Lokalpolitiker und Musiker in „Wölfjen und ich“ Anekdoten aus seiner Kindheit in den 60ern. Viele der Geschichten regen zum Schmunzeln an, manche zum Nachdenken – über die eigene Kindheit, den heutigen Nachwuchs und unsere Gesellschaft im Ganzen. „Nach heutigen Gesichtspunkten waren wir arm“, schreibt Linke beispielsweise.

Noch heute falle ihm das schwer anzuerkennen. Er und seine drei Geschwister mussten Kleidung aus den 40ern und 50ern auftragen. TV- Übertragungen waren rar gesäte Happenings bei den wenigen Nachbarn und Verwandten, die einen Fernseher besaßen. Und schnell zum Smartphone greifen, um eine Whatsapp-Nachricht zu senden? Damals verschickte man noch Telegramme, wenn rasch etwas Wichtiges mitgeteilt werden musste, erfährt man im Buch.

Nicht reich - und doch von allem genug

Doch zur heutigen jungen Generation stellt Linke fest: „Man weiß einfach nicht den Überfluss an Möglichkeiten zu schätzen.“ In einer Anekdote tritt der kleine Jürgen bei einem seiner Ausflüge in einen Nagel. Es wird einen warm ums Herz, wenn der heute 62-Jährige erzählt, wie ihn seine Mutter pflegte. Und der Schuh? Wurde natürlich repariert und weitergetragen.

„Ja, wir waren nicht reich und dennoch hatten wir von allem genug!“, erinnert sich Linke. Es mangelte nie an Zuneigung. Und an kleineren und größeren Abenteuern definitiv ebenfalls nicht. Viele hat Linke mit seinem „Blutsbruder“ Wöfjen (Dieter Wolf) erlebt. Daher auch der Titel des Buchs „Wölfjen und ich“. Nahezu alle Geschichten ereigneten sich innerhalb des Dorfes Niederhövels, in dem Linke die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte. Man fühlt mit dem Autor, wenn er am Schluss des Buches beschreibt, wie schwer ihm der Abschied von seinem Heimatort fiel, als die Familie später nach Wissen zog.

Auch heute noch leuchten seine Augen beim Spaziergang durchs Dorf

Wenn man mit dem heutigen Jürgen Linke durch Niederhövels spaziert, leuchten immer noch seine Augen. Lebendig erzählt er dann von den Kindheitserlebnissen, die er im Buch aufarbeitet. Wölfjen und er kamen sich vor wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn, als sie sich auf einer Schlauchboot-Tour Richtung Wissen aufgemacht hatten. Die Reise begann behäbig. Am Ende waren sie klatschnass und mit einem blauen Auge davongekommen. Was die beiden erlebten oder eher überstanden? Das erfährt man im Buch. Ebenso, wie es dazu kam, dass der Volksschüler Linke auf dem Schulhof verprügelt wurde und sich danach schwor, anderen in seiner Lage stets zu helfen – im Gegensatz zu seinen damaligen Schulkameraden.

Ob hier schon die Grundlagen gelegt wurden für das spätere politische Engagement, Stichwort Solidarität? Immerhin beschreibt Linke eindrucksvoll auch von einer Familienwanderung am 1. Mai. Sein Vater, Bahnmitarbeiter, und seine Mutter stimmten ein Arbeiterlied an: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“. „Viele andere Arbeiterlieder sollten folgen, und auch ich habe viele Jahre später eines für meinen Großvater gedichtet, der ja in dieser Grube, auf deren Gelände wir uns damals befanden, mehr oder weniger sein Leben verloren hatte“, schreibt der Autor.

Ja, auch den Tod klammert Linke nicht aus. Gleich mehrfach kam er in seiner Kindheit mit der Endlichkeit des Lebens in Berührung. Da ist etwa der Mann, der im Schlamm der Sieg stand. Über ihn hing von der Brücke, die Richtung Sportplatz führte, ein Seil, dessen Länge er offenbar als zu lang eingeschätzt hatte. Auch berichtet Linke von einem Mann, der sich an einem Baum aufgehangen hatte. Der ältere Bruder von Wölfjen entdeckte die Leiche und schnitt kurzerhand das Seil ab.

Geschichten mit nachhaltiger Sogwirkung

Grundsätzlich muss man „Wölfjen und ich“ aber als eine Würdigung des Lebens an sich sehen. Was dem kleinen Grubenort Niederhövels der 60er Jahre Linke zufolge an Schönheit abging, glich er nämlich mit Lebendigkeit und Charakterköpfen aus. Linke zählt allein drei Geschäfte und drei Kneipen auf, eine davon direkt im Bahnhofsgebäude unter seinem ehemaligen Familienhaus. Rund um den Bahnhof spielte sich denn auch das Leben ab. Begeistert beschreibt Linke, wie Scharen von Menschen aus den roten Schienenbussen ausgespuckt wurden: „Vor allem an späten Nachmittagen kam es mir häufig wie eine Völkerwanderung vor.“

Dank der Bahn eröffneten sich dem kleinen Jürgen vollkommen neue Horizonte. Gebannt entdecken die Leser etwa durch die Augen eines Kindes den Kölner Dom – und erinnern sich daran, wie sie selbst das erste Mal das Bauwerk bestaunten. Diese Erlebnisse entwickeln auf den über 200 Seiten eine besonders nachhaltige Sogwirkung. Es sind Erinnerungen an eine Kindheit auf dem Land, die man nicht mit Instagram-Followern aufwiegen kann. (ddp)
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„Wölfjen und ich: Geschichten aus einer Zeit ohne Überfluß"
Verlag: VERRAI-VERLAG
ISBN: 9783948342241
226 Seiten
Preis: 13,90 Euro

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Leseprobe hier.
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Die SWR-Landesschau Rheinland-Pfalz hat Jürgen Linkes Buch einen hochwertigen Beitrag gewidmet:

 
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