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Nachricht vom 19.08.2021    

Norbert Röttgen: Wir haben dem Schrecken die Türen geöffnet

Von Thomas Sonnenschein

Bei einer Video-Konferenz mit Norbert Röttgen, zu der Dr. Andreas Nick interessierte Westerwälder eingeladen hatte, redete der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses mit deutlichen Worten ausführlich über die Situation in Afghanistan.

Norbert Röttgen sieht man an, dass er eine harte Woche hinter sich hat. (Screenshot: Thomas Sonnenschein)

Westerwaldkreis. Eigentlich sollte es eine Live-Diskussion auf dem Westerbuirger Rathausplatz werden. Norbert Röttgen, der Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses im Bundestag, wollte eigentlich den Wahlkampf seines langjährigen Kollegen Dr. Andreas Nick unterstützen und über die künftige Außenpolitik sprechen.

Doch es kam anders: Der hastige Rückzug in Afghanistan, der dramatische Versuch, hunderter Afghanen, das Land mit Hilfe deutscher Flugzeuge zu verlassen und die fluchtartige Evakuierung deutscher Staatsangehöriger in Afghanistan sind so ernst zu nehmen, dass Röttgen erst zu einer Sondersitzung musste und später im Fernsehen zugeschaltet wurde.

Dennoch nahm er sich 90 Minuten Zeit, um stattdessen interessierte Westerwälder bei einer Online-Konferenz ausführlich zu informieren. Das Team um Dr. Andreas Nick organisierte das Treffen in aller Eile und so konnten mehrere Dutzend Teilnehmer direkte Fragen zur aktuellen Lage stellen.

Für Wahlkampf ist das Thema Afghanistan, das auf den Tisch kam, viel zu düster, viel zu wichtig. Röttgen machte keine Illusionen, keine Versprechungen. Er redete nicht um den heißen Brei, sondern nahm direkten Bezug auf die aktuellen Vorgänge in Afghanistan, die Verantwortung des Westens, die fatalen Fehlentscheidungen und auch die Mitschuld der Bundesregierung.

Aber der Reihe nach:

„Das wird Biden nicht mehr los“
Ungeschminkt verrieten Röttgens Augenringe, welch harte Woche hinter ihm lag. Gerne wäre er im Westerwald nahe seiner Heimat im Siebengebirge gewesen. Seit acht Jahren arbeite er schon mit Nick zusammen und halte ihn für ebenso kompetent wie sympathisch, aber die dramatischen und traurigen Umstände in Afghanistan ließen sich nicht ausblenden. Im Gegensatz zu den schlimmen Naturereignissen in jüngster Zeit sei die Katastrophe in Afghanistan rein politisch verschuldet. Doch sie sei ernst und berühre viele Menschen tief. Es sei auch definitiv keine militärische Niederlage des Westens gewesen, sondern eine politische – und eine moralische.

Dass Donald Trump unter seiner Regierungszeit mit den Taliban verhandelt habe und den Truppenabzug in die Wege leitete sei ja keine Überraschung. Aber dass sein Nachfolger und Hoffnungsträger, Joe Biden jetzt tatsächlich den Abzug vollstreckte, das sei in Bruch in die Vertrauenswürdigkeit Amerikas. „Das wird Biden nicht mehr los“ konstatierte Röttgen.

Die USA interessiere sich nur noch für ihr eigenes Land, dann käme China, China und nochmal China. Die Europäer stünden ohnmächtig daneben, während die USA sich aus dem Weltgeschehen zurück zögen, die Russen sich aggressiv verhielten und die Chinesen vordrängten. Die Welt werde sich mit der neuen Situation maßgeblich verändern.

Derzeit sicherten deutsche und amerikanische Soldaten noch den Zugang zum Flughafen in Kabul. Wie lange er offen bliebe, sei ungewiss. Spätestens wenn die Amerikaner ihre Landsleute ausgeflogen hätten, würde sich der Korridor schließen, vorausgesetzt die Taliban ließen die Rettungsaktion solange überhaupt zu. Außerhalb des Zugangs würden sie bereits verhindern, dass Afghanen die Zone überhaupt erreichen.

Das dopelte Spiel der Taliban würde zeigen, dass es sich nicht um eine homogene Gruppe handelt. Nach außen würden deren Abgeordnete um internationale Anerkennung werben, währen örtliche Kommandeure bereits mit blindem Fanatismus unkontrolliert wüteten.

Das Vakuum, das die westliche Flucht hinterließe würden Russland und China zu nutzen wissen. Deren Botschaften in Afghanistan zögen nicht ab.

Nick fragte, ob Deutschland in der Umsetzung der Außenpolitik zu abhängig von anderen sei.
„Wir müssen auch ohne die USA eigenständig werden, mit Frankreich und Polen, mit kleineren Staaten zusammen“, antwortete Röttgen, „sonst werden wir marginalisiert und werden gar nicht mehr Ernst genommen.“ Parallel müsse die Partnerschaft mit den USA neu aufgenommen werden.

„Der Westen ist raus.“
Helmut Klawonn fragte nach der geostrategischen Strategie nach dem Truppenabzug. Die Russen würden ihrerseits bereits ein Mannöver in Tadschikistan durchführen, um einem eventuellen Übergriff der Ideologie der Taliban entgegen zu wirken.

Röttgen sprach Klartext: „Der Westen ist raus.“ Es sei nichts abzuschätzen, andere Player seien nun am Zug. Die Taliban hätten sich beispielsweise schon mit dem chinesischen Außenminister getroffen, der russische Einfluss werde wachsen.

Hierbei ist besonders interessant, dass China in der internationalen Kritik steht, weil sie die Uiguren als islamisch geprägtes Volk in Umerziehungslager stecken. Jetzt also reden sie ausgerechnet mit den fanatischen Taliban.

Aber Röttgen ist noch nicht fertig: Es werde Fluchtwellen geben, auf die sich Europa und Deutschland einstellen müsse. Die Afghanen würden zunächst in den Iran flüchten. Dort thront ein brutaler Schlächter aus den 1980er Jahren, also weiter in die Türkei. Erdogan, der schon wegen der Syrienflüchtlinge unter Druck stünde, werde die Schleusen nach Europa öffnen. Darauf müssten sich die Europäer, vor allem Deutschland einstellen. „Europa ist der direkte Nachbar des nahen Ostens.“

„Wir haben unseren Einfluss verloren.“
Der Landtagsabgeordneten Jenny Groß konnte Röttgen keine Hoffnung schenken. In einem speziellen Fall, der ihr am Herzen liegt, hat ein Afghane in Deutschlanbd Asyl erhalten, seine Frau jedoch sitzt nun alleine in Afghanistan fest und kommt nicht aus dem Land heraus.

Röttgen machte ihr keine Illusionen. Sogar Kinder mit deutscher Staatsbürgerschaft, deren Eltern aus Afghanistan stammen und die aus welchen Gründen auch immer sich in Afghanistan aufhielten, würden von den Taliban daran behindert, den rettenden Flieger nach Deutschland zu besteigen. Das fatale daran: Mädchen würden leicht zur Kriegsbeute. Das grausame Schicksal dieser Kinder lässt sich also kaum ertragen. Gleiches gilt für afghanische Frauen, die einst in Deutschland als Krankenschwestern ihren Dienst an der Gesellschaft verrichtet haben und nun im eigenen Land helfen und unterstützen wollten. Auch sie kommen nicht mehr aus dem Land heraus.



Fragen nach der Zukunft der Asienpolitik von Karl-Heinz Boll aus Hachenburg und Florian Hubert aus Westerburg holte Röttgen in der Gegenwart ab. „Wir haben unseren Einfluss verloren.“ Es sei ungewiss, wie lange die Amerikaner noch den Korridor frei hielten, vor allem aber sei ungewiss, wie lange die Taliban einen solchen Korridor überhaupt noch erlauben würden. „Die Amis fliegen ihre eigenen Leute heim, wir, die Deutschen, fliegen alle anderen Nationen aus.“ Nicht der Westen, nein, die Taliban hätten den Finger am Abzug. Die Rolle der Sicherheit für die Welt scheint die USA aus den Augen verloren zu haben. Das sei bitter und tue Weh, aber es sei Stand der Realität.

Paula Maria Maaß fragte, wer denn für das Versagen in Afghanistan die Verantwortung trage. Röttgen dazu, es sei die bequeme Sichtweise gewesen, dass man vom Best Case Scenario ausging in der westlichen Politik. Man sei davon ausgegangen, Kabul werde auf jeden Fall gehalten. Das zeige den geringen Willen des Westens an wirklichen Veränderungen in Afghanistan. Denn es sei möglich gewesen, die Taliban an ihrem Vormarsch bis zum Einbruch des Winters zu stoppen, aber das sei nicht geschehen.

Auf die Frage, was nun mit den Frauen geschehe, zuckte Röttgen traurig mit den Achseln. All jene, die dem Westen geholfen hätten, drohe nun ein Massaker. Deshalb sei es am Flughafen ja auch schon zu dramatischen Szenen gekommen.

Männer, die sich erdreistet haben, den Bart zu rasieren, Frauen, die nicht von Kopf bis Fuß verhüllt gelebt haben, Kinder, die den Ungläubigen, also uns im Westen, geholfen haben, ihnen allen droht der Tod durch Erschießen, Steinigung oder Enthauptung.

„Afghanistan wird nicht einfach von der Landkarte verschwinden“
Jan Lieberum fragte, was die Amis denn genau den Taliban versprochen hätten. Röttgen sagte dazu, der Westen sei gar nicht in der Situation zu verhandeln. Es komme darauf an, was die Taliban nun zugestehen.

Gerhard Krempel, Ehrenbürger der Stadt Westerburg, kritisierte, dass der Wechsel von Trump zu Biden schon einige Zeit zurück läge, so dass die Westeuropäer und England ihrerseits hätten genug Zeit gehabt, um notfalls auch ohne die USA die Taliban in Schach zu halten. Röttgen bejahte dies, verwies aber noch einmal darauf, dass niemand in der Regierung auf das Worst Case Szenario eingestellt war. Ein fataler Fehler, der diese Katastrophe erst ermöglichte.

Moritz Knöller fragte, wie es nach dem Abzug in der Afghanistan-Politik weiter gehen werde. Eine direkte Antwort konnte Röttgen nicht bieten. Es gäbe keine Pläne für diesen Worst Case. „Afghanistan wird nicht einfach von der Landkarte verschwinden“, sagte Röttgen mit Sorge und wiederholte, dass es zu einer drastischen Verschiebung der Machtverhältnisse kommen werde. Dem Land selbst drohe möglicherweise ein langer Bürgerkrieg.

Röttgen erinnerte daran, dass der Einsatz begonnen habe mit der Jagd auf Osama Bin Laden nach dem Angriff auf das World Trade Center. Danach sei es eine Stabilisierungsaktion in Afghanistan gewesen, der Westen habe Sicherheit und Bildungsangebote in Afghanistan installiert, welche die Menschen, vor allem die Frauen in dieser Form vorher nie hatten, Der Irrglaube, die afghanische Armee würde sich wehren vernachlässigt die Tatsache, dass Afghanistan eine Stammesgesellschaft sei und keine homogene Nation. Unmittelbar nach der Übergabe der Verantwortung an die afghanische Regentschaft seien die Truppen nicht mehr bezahlt worden, ganze Einheiten mussten befürchten, dass die ihnen überstellten Warlords plötzlich die Seiten wechselten. Das sei keine Armee im westlichen Sinne, so wenig wie das ganze Land mit unseren Wertevorstellungen kompatibel sei.

Das Image der Union
Konrad Schuler wunderte sich, dass Fehler der Regierung in der öffentlichen Wahrnehmung immer der CDU als Partei angelastet würden. Röttgen bestätigte, das nehme auch er so wahr. Dabei müssten die einzelnen Ministerien in die Verantwortung genommen werden.

Zum Wahlkampf merkte Nick an, dass nur rund fünf Wochen Zeit blieben, um die Negativstimmung gegen die Union zu drehen. Röttgen sagte dazu, der Wahlkampf sei immer geprägt von aktuellen Themen. Dieses Mal habe es eine Katastrophe nach der anderen gegeben: Corona, die Flut, Afghanistan. Die Menschen seien deshalb besonders emotional in ihren Entscheidungen, darauf müsse sich auch der Kanzlerkandidat einstellen, mit dem nötigen Ernst, aber ohne niedergedrückt zu sein. Umgekehrt habe gerade die Flutkatastrophe gezeigt, welch eine vorbildliche Solidargemeinschaft die deutsche Bevölkerung sei.

Nick ergänzte, es sei nicht leicht, nach 16 Jahren in der Regierung erneut den Regierungsauftrag zu erhalten. Auch mit der personellen Aufstellung solle Vertrauen gewonnen werden.

Röttgen zählte auf, dass es viele Themen gäbe, die dringend umgesetzt werden müssten, darunter die Digitalisierung, die internationale Zusammenarbeit gegen den Klimawandel, die Entbürokratisierung. Er sehe durchaus Potenzial für die CDU.

Röttgen wurde kurz nach der Konferenz bei Maischberger im ARD zugeschaltet. Er versprach aber, das ursprünglich geplante Live-Treffen im Westerwald irgendwann nachzuholen.

Ab Minute 36.40 ist Norbert Röttgen in der ARD-Mediathek bei Maischberger zu sehen.
(Thomas Sonnenschein)



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