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Nachricht vom 02.09.2022    

Marion Gräfin Dönhoff, Immanuel Kant in einer Ente und kalter Kaffee

Von Helmi Tischler-Venter

Im Rahmen des diesjährigen Themas „Ost-Wind“ der Westerwälder Literaturtage las Friedrich Dönhoff aus seiner Biografie „Die Welt ist so, wie man sie sieht. Erinnerungen an Marion Dönhoff“ im altehrwürdigen Schloss Schönstein, das sich im Familienbesitz der Linie Hatzfeld-Wildenburg-Dönhoff befindet. Der Gräfin hätten das Ambiente und der freundschaftlich-vertraute Duktus ihres Großneffen sicherlich gefallen.

Autor Friedrich Dönhoff bei seiner Lesung im Schloss Schönstein. Fotos: Helmi Tischler-Venter

Wissen-Schönstein. Hausherr Nicolaus Graf von Hatzfeldt und die Buchhändlerin und ehemalige Leiterin der Westerwälder Literaturtage, Maria Bastian-Erll freuten sich sehr, den Autor nach zehn Jahren wieder zu einer ausverkauften Lesung begrüßen zu können. Bastian-Erll würdigte die 2002 verstorbene Marion Dönhoff als große Publizistin, die nicht nur die Wochenzeitung „Die Zeit“ herausgab, sondern auch immer wieder Bücher über widerständige Personen schrieb, dazu Krimis, die gesellschaftliche Probleme beinhalteten. Nicolaus von Hatzfeldt bezeichnete seine Großtante als Optimistin, trotz der beiden Kriege, die diese Generation hatte erleben müssen.

Diese Einschätzung bestätigte Friedrich Dönhoff in seinem „Marion Dönhoff-Abend“, in dem er die Gräfin als Schreiberin selbst zu Wort kommen ließ und danach aus seinem Buch zitierte, das aus den letzten Gesprächen der beiden Autoren in Hamburg-Blankenese resultierte.

Lebensstationen der 1909 als jüngstes von acht Kindern auf Schloss Friedrichstein in Ostpreußen geborenen Marion Hedda Ilse Gräfin Dönhoff waren ein schwerer Unfall, den sie 1924 als Einzige überlebte und das 1929 in Potsdam bestandene Abitur. Sie reiste mit ihrer älteren Schwester im offenen Auto durch ganz Europa und studierte Volkswirtschaft in Königsberg und Frankfurt und promovierte. Im Januar 1945 flüchtete sie auf ihrem Pferd Alarich nach Westfalen, wo nach eigenen Aussagen ihr „Zweites Leben“ als Redaktionsmitglied der neu gegründeten Wochenzeitung „Die Zeit“ begann, deren Chefredakteurin sie 1968 wurde.

Wichtig waren ihr immer die Warnung vor einem ungezügelten Kapitalismus und die Versöhnung mit dem Osten, obwohl sie nie mehr in die verlorene Heimat zurückkehren wollte. Im Sommer 1989, noch vor der Mauer-Öffnung brach sie das Prinzip und fuhr nach Königstein, das nun im russischen Teil Ostpreußens bei Kaliningrad lag. Wie sie in ihrer Reportage „Reise ins verschlossene Land“ schrieb, ging ihr der Verlust einer von Daniel Rauch geschaffenen Kant-Statue nahe. Sie machte ein kleines Gipsmodell, ebenfalls von Rauch, in Charlottenburg ausfindig und ließ einen Bronzeguss anfertigen, den sie zusammen mit Hermann Hatzfeld auf dem Rücksitz einer Ente (2CV) nach Königsberg transportierte. Die russischen Vorschriften erforderten eine 1.600 Kilometer lange Fahrt quer durch Polen, Weißrussland und Litauen nach Kaliningrad. Die Allee nach Friedrichstein stand noch, aber das riesige Schloss war wie vom Erdboden verschluckt. Mit der Ente ging es im 110-Kilometer-Tempo und dem Eindruck, dass die Russen liebenswert und freundlich seien, die Heimat Friedrichstein aber nur noch eine Traumwelt, wieder zurück.



Marion Dönhoffs Rede zum Thema „Zivilisiert den Kapitalismus“ aus 1996 könnte von heute sein: Maß halten, Liberalismus und Toleranz seien Vorbedingungen für eine Civil Society, deren Werte durch Elternhaus, Schule und Gesellschaft vermittelt werden müssten. Die Autorin sah eine Zeitenwende durch Globalisierung und Digitalisierung und sie sah neuen Ungewissheiten entgegen: Was wird aus Russland werden? Kommen neue Gefahren aus dem Osten? Sie bedauerte, die Metaphysis sei ausgeblendet, es gehe nur noch ums Geldverdienen. Man müsse Säkularisierung und Kapitalismus Grenzen setzen, ohne Verhaltensnormen könne keine Gesellschaft existieren. „Es kommt auf jeden Einzelnen von uns an!“

Persönliche Erlebnisse Friedrich Dönhoffs mit seiner Großtante Marion erheiterten die Zuhörer, zum Beispiel ihr Kinobesuchs-Ritual, zitiert aus dem Buch „Die Welt ist so, wie man sie sieht“: Marion und Friedrich kamen immer als Letzte in den Saal und waren als Erste wieder weg, spätestens nach der Hälfte des Films. Die Werbung war der Schreiberin zu langwierig, daher entfloh sie nach einer Stunde in ihr Büro, auch noch mit über 90 Jahren.

Die Gräfin änderte nie ihren Kleidungsstil, mit dem Ergebnis, dass dieser in Abständen gerade modern war. Daher wurde sie einmal zu ihrem eigenen Erstaunen von der „Gala“ zu den fünf bestangezogenen Frauen gewählt.

Wenn der Kaffeerest kalt wurde, pflegte Marion Dönhoff diesen unauffällig in die Hecke zu kippen, damit ihre Haushälterin Frau Ellermann nicht beleidigt sei. Diese kannte die Gewohnheiten ihrer Arbeitgeberin indessen genau.

„Die letzten Gespräche“ nahm Friedrich Dönhoff nach dem 92. Geburtstag seiner Großtante auf, bereits mit der Absicht, sie zu einem Buchprojekt zu verarbeiten. Darin äußert Marion Dönhoff ihre Gedanken über den Tod an sich, Leben nach dem Tod, Schutzengel, Schicksal und Zufall, Zufriedenheit, Chancengleichheit und Gerechtigkeit, Erinnerungen an die vielen früheren Reisen und ihre Affinität zu Natur und Tieren.

Friedrich Dönhoff zeichnete auf unterhaltsame Weise das Bild einer konservativ-liberalen Frau mit Moral und Rückgrat. Sein lebendiger Vortrag fesselte die Zuhörer, die sich bereits auf das Thema „Süden“ des Westerwälder Literatursommers im übernächsten Jahr freuen, wenn der Autor wahrscheinlich wieder zu einer Lesung in den Westerwald kommen wird. (htv)



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