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Nachricht vom 07.03.2023    

Zur aktuellen Lage in Wissen: "Die Kirche im Dorf lassen"

LESERMEINUNG | Rassistische Vorurteile statt Zusammenstehen? Überwachung statt Sicherheit? Verrohte Jugend und bildungsferne Schichten? Nach dem Brandanschlag auf die Kirche Kreuzerhöhung in Wissen hat es nicht nur in der Stadt viele Diskussionen um die Hintergründe und die allgemeine Sicherheit gegeben. Kuriere-Leserin Christa Schmidt hat die Situation genauer hinterfragt.

Die Kuriere hatten über den Brand in der Kirche Kreuzerhöhung und die Bemühungen Wissens um mehr Sicherheit bereits mehrfach berichtet.

Wissen. Nach einem Kirchenbrand sehen Teile der Bevölkerung Grund zum Handeln. Warum empfinden Menschen angesichts der Beschädigung eines Gebäudes so große Verunsicherung? Vom Täter ist kein Tatmotiv bekannt. Es handelt sich um keine politische Straftat. Hier wäre es also tatsächlich angebracht, von einem Einzelfall zu sprechen. Selbst die Polizei sieht keine Sicherheitsprobleme in Wissen: Die Aufklärungsquote liegt laut Polizeilicher Kriminalstatistik deutlich über dem Bundesdurchschnitt und ist so hoch wie seit Beginn der Aufzeichnungen noch nie. Die Anzahl der Straftaten sinkt.

"Doch gefühlt ist das manchmal anders.", so K. Behner im AK-Kurier. Aus dem Polizeipräsidium heißt es, "einzelne Straftaten würden die mediale Berichterstattung und damit auch die Wahrnehmung der Bürger prägen" (SWR). Behners Artikel sind Beispiele für dieses Phänomen. Und auch dafür, wie Sprache und Stereotypen diskriminierende Haltungen fördern können. Statt zu beleuchtet, wie es zum Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung kommt und ob dies überhaupt ein neuartiges Phänomen ist, wird der Brand ohne faktische Zusammenhänge indirekt mit den Themen Migration, psychiatrischer Versorgung und Jugend verbunden. Der aktuellste Artikel beschäftigt sich gar vollständig nur mit der Reproduktion von Gerüchten, ohne eine seriöse Quelle nennen zu können.

5000 Jahre Verrohung der Jugend
Obwohl der Täter kein Jugendlicher war, suggerieren vorangegangene Zeitungsartikel eine pauschale Kriminalisierung von jungen Menschen und verstärken dadurch negative Stereotype. Mitarbeitende des "Haus der Offenen Tür" werden mit Aussagen über "fehlende Lebensinhalte, Verrohung und das Desinteresse an der Gesellschaft teilzunehmen" bei Jugendlichen zitiert. Über die Verrohung der Jugend beschweren sich sogenannte Erwachsene bereits, seit sie schreiben können. Die ältesten Aufzeichnungen solcher Zuschreibungen finden sich auf Tontafeln der Sumerer von vor rund 5000 Jahren. Faktisch nachweisen ließ sich das Phänomen allerdings nie.

Dass es sich bei der "Verrohung" nicht um ein Symptom der Jugend, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem handele, meint ein interviewter Polizist. Auch Bürgermeister Neuhoff zitiert Herbert Reul: Es fehle der Gesellschaft an "Haltung, Wertschätzung und Respekt". Dass mit der umschriebenen Verrohung die Zunahme rechter Gewalt (die sich tatsächlich statistisch belegen lässt) oder die zunehmende Salonfähigkeit faschistischer Sprache gemeint ist, ist wohl nicht zu vermuten.

Stattdessen schlägt die Debatte einen völlig zusammenhangslosen Bogen zum Thema Migration, Jugend und der psychiatrischen Ambulanz in Wissen.

Rassistische Vorurteile statt Zusammenstehen
In Deutschland werden "zwischen 2015 und 2019 insgesamt 10 936 rassistische Angriffe auf Asylsuchende, darunter 276 Brandanschläge, […] erfasst" (Amadeu Antonio Stiftung). Ständig wird zu Unrecht von Einzelfällen gesprochen. Hier, wo der Begriff "Einzelfall" wirklich passend ist, wird ein Problem mit Migration vermutet.



Der Bürgermeister selbst lässt sich zitieren mit Sätzen wie: "Mehr Aufnahme gehe nicht.", "das ist viel […]". Und: "Zu vielen der Menschen bekäme man keinen Kontakt, selbst in der Vereinsarbeit - viele leben "lieber unter sich". Außerdem spricht er von "bildungsfernen Schichten", auch Deutschen, die neben Menschen mit Migrationshintergrund nicht mehr zu erreichen seien". Nicht nur wird hier migrantisierten Menschen per se eine Bildungsferne zugesprochen, auch werden sie als "Andere" gesehen, von denen es vor der eigenen Haustür nicht zu viel geben darf, wenn sie sich nicht so verhalten, wie die bürgerliche Norm es vorgibt.

Man könnte sich stattdessen fragen, wie es kommt, dass Menschen sich anders beschäftigen als in der Schützenbruderschaft, dem Karnevals- oder Angelsportverein. Vielleicht sind deutscher Schlager, Alkoholkonsum und Umgangsformen im Bierfestzelt nicht für alle begeisternde Kulturgüter. Wer sich beschwert, dass Menschen unter sich blieben, statt sich in alteingesessene Strukturen einzubringen, muss selbst den ersten Schritt machen. Es ist gut, dass verschiedene kulturelle Ausdrucksformen nebeneinander existieren.

Überwachung statt Sicherheit
Stadtrat und Teile der Bevölkerung wünschen sich mehr Polizeipräsenz und Videoüberwachung. Gefordert wird das auch auf einer Demo für "mehr Sicherheit, Respekt und Verantwortung in unserer Stadt" am vergangenen Samstag. Dabei gibt es keinen Zusammenhang zwischen Sicherheit und Überwachung.

Bei Überwachung geht es um Macht und Kontrolle. Denn Überwachung produziert nur das: Überwacher und Überwachte. Es gibt keine Studie, die belegt, dass Videoüberwachung für Sicherheit sorgt. "Wenn Täter*innen im Affekt handeln, ignorieren sie Kameras. Wer kaltblütig einen Mord plant, bereitet sich auch auf die Videoüberwachung vor und verkleidet sich so, dass der nicht-intelligente Algorithmus nichts erkennt" (Digitalcourage e.V.). Um gefühlte Sicherheit zu erhöhen, werden Kameras kaum helfen -sie vermitteln eher Gegenteiliges: Du wirst überwacht, beobachtet und kontrolliert. Oder: Hier ist ein gefährlicher Ort. Du bist in Gefahr.

Wohin mit der eigenen Ohnmacht?
Dass faktisch keine erhöhte Unsicherheit besteht, ist klar. Dass Überwachung, Polizei und Abgrenzung nicht zu einem solidarischen Miteinander führen, sollte auch klar sein. Woher kommt also diese gefühlte Unsicherheit?
Es ist leicht, in Krisen das Gefühl von Stabilität und Kontrolle zu verlieren. Menschen, die es gewohnt waren, dass die Dinge auf eine bestimmte Weise funktionieren und dass vermeintlich Einfluss auf das eigene Leben genommen werden kann, spüren plötzlich Ungewissheit und Ohnmacht. Sie fürchten um ihre Arbeitsplätze, ihre Ersparnisse und ihre Zukunft. Daraus resultiert Angst. Klimawandel, Kriege, Ausbeutung, soziale Ungleichheit, Pflegenotstand, … -Krisenzustände scheinen häufiger, mehr und näher. Was tun, wenn sich Ungerechtigkeit nicht mehr ignorieren lässt?

Vielleicht sollten wir uns statt einer laut dem Ordnungsamt "gut funktionierenden Sozialkontrolle", dem gesellschaftlichen Zwang der bürgerlichen Norm, ein solidarisches Miteinander wünschen. Wir können die Lebensbedingungen Einzelner beachten und darauf eingehen. Wir können gesamtgesellschaftliche Unterdrückungsstrukturen erkennen und in Frage stellen.

Die Verunsicherung bietet eine Chance, systematische Ungerechtigkeiten zu erkennen und eine Bewegung für eine gerechtere und solidarischere Gesellschaft zu unterstützen.

Christa Schmidt, Wissen


Mehr dazu:   Lesermeinung  
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