Werbung

Pressemitteilung vom 27.05.2023    

Uni Siegen zur Koordinierung Gesundheitsversorgung: "Das deutsche System ist eine Zumutung"

Deutschland schneidet nicht gut ab, wenn es um die Koordinierung von Gesundheitsversorgung und Pflege geht. Das haben Wissenschaftler der Uni Siegen und des Mannheimer Zentrums für europäische Sozialforschung herausgefunden. Für ihre Studie haben sie die Situation in Deutschland, Schweden, den Niederlanden und der Schweiz verglichen.

(Symbolbild: Pixabay)

Siegen. Eine Seniorin erleidet einen Oberschenkelhalsbruch. Nach der stationären Behandlung im Krankenhaus möchte sie gerne weiter selbstständig in der eigenen Wohnung leben. Dazu benötigt die Patientin jedoch auf unbestimmte Zeit professionelle Hilfe. Solche und ähnliche Schicksale erleben gerade ältere Menschen sehr häufig. Dann muss innerhalb kürzester Zeit das komplette Alltagsleben neu organisiert werden. Wie stark die Patienten und ihre Angehörigen dabei unterstützt werden, ist international sehr unterschiedlich. Das ist laut Uni Siegen das Ergebnis einer vergleichenden Studie zum Übergang von der Krankenhausversorgung zur Anschlussversorgung zu Hause beziehungsweise im Heim.

Wissenschaftler der Universität Siegen und des Mannheimer Zentrums für europäische Sozialforschung haben die Situation in Schweden, den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland verglichen. Deutschland kommt dabei am schlechtesten weg – es fehlt an funktionierenden Strukturen, qualifiziertem Personal und klaren Zuständigkeiten.

"In Deutschland ist es in erster Linie Aufgabe der Patientinnen und Patienten sowie ihrer Angehörigen, notwendige Pflegeleistungen nach einem Krankenhausaufenthalt zu organisieren“, erklärt der Siegener Gesundheitssoziologe und Leiter der Studie, Prof. Dr. Claus Wendt. Die einzige Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Versorgung sei das Entlass-Management der Krankenhäuser. Jedoch stehe dort häufig zu wenig Zeit zur Verfügung: Durch die Finanzierung der Krankenhausleistungen nach Fallpauschalen habe sich die Verweildauer im Krankenhaus seit den 1990er Jahren immer weiter verkürzt. Unter den aktuellen Bedingungen sei das deutsche System "für alle Beteiligten eine Zumutung“, sagt Wendt: "Ältere Menschen benötigen meist unterschiedliche Leistungen und sind auf die Kooperation mehrerer Anbieter angewiesen. Das macht die Sache komplex – zumal es in Deutschland kein digitales System gibt, in dem Pflegedienste und -Einrichtungen mit ihren Kapazitäten erfasst sind. Dann haben Sie in einer Region zehn verschiedene Anbieter – wissen aber nicht: Wo sind noch Plätze frei?“

In keinem der drei Vergleichsländer sind Patienten und ihre Familien so sehr auf sich gestellt, wie in Deutschland, zeigt die aktuelle Studie. So gibt es beispielsweise in den Niederlanden und in Schweden ein klares Hausarzt-System: Jeder ist dort in die Liste eines Hausarztes eingetragen. Die Ärzte sind für die Einweisung ins Krankenhaus zuständig – und werden informiert, sobald die Entlassung ansteht. Als Primärversorger seien die Hausärzte dann automatisch in die Organisation der notwendigen Pflegeleistungen eingebunden und übernehmen die Koordination mit dem Krankenhaus, berichtet Wendt: "In Deutschland denken wir so gar nicht. Bei uns sind der ambulante und der stationäre Sektor strikt voneinander getrennt.“



Neben den Hausärzten seien in anderen Ländern auch die Kommunen in die Koordination von Pflegeleistungen eingebunden. Beispiel Schweiz: Als nicht-kommerzielle Akteure unterstützen Kommunen ältere Menschen dort umfassend, Pflegeleistungen und Dienste wie Einkäufe, Essen auf Rädern oder Behördengänge zu organisieren. "In Deutschland könnten sich die Kommunen zum Beispiel über die Pflegestützpunkte stärker einbringen, die aktuell in einigen Bundesländern aufgebaut werden“, sagt Wendt. Pflegestützpunkte werden auf Initiative der Länder von den Kranken- und Pflegekassen eingerichtet und sollen jeweils vor Ort das gesamte Leistungsspektrum für Pflegebedürftige organisieren. Für Wendt ein "Schritt in die richtige Richtung“, aber: "Leider gibt es die Stützpunkte noch nicht überall.“

Auch an qualifiziertem Personal mangele es hierzulande. So gebe es in Schweden und in den Niederlanden sogenannte "Nurse Practitioners“, berichtet Wendt. Hochqualifizierte Pflege-Experten, die als Angestellte der Kommunen (Schweden) oder der Sozialversicherungen (Niederlande) ebenfalls wichtige Koordinationsleistungen übernehmen. "In Deutschland hinken wir bei der Akademisierung der Pflege weit hinterher. Dabei ist der Druck schon jetzt hoch und wird angesichts des demografischen Wandels noch steigen.“

Um die Situation für Patienten und ihre Angehörigen in Deutschland zu verbessern, empfiehlt Wendt den Aufbau größerer Strukturen: Ambulante medizinische Versorgungszentren und große Krankenhauszentren könnten mehr Aufgaben bei der Koordination von Pflegeleistungen übernehmen. Auch die Kommunen müssten stärker eingebunden – dafür aber auch an der Finanzierung beteiligt werden, fordert Wendt. Den Aufbau als Sozialversicherungssystem ohne intensive Einbindung der Kommunen sieht er als eine Fehlentwicklung an. Neben solchen strukturellen Voraussetzungen bräuchte es mehr qualifiziertes Pflegepersonal und eine bessere digitale Infrastruktur.

Last but not least fordert der Gesundheitswissenschaftler, die finanzielle Trennung zwischen ambulantem, stationärem und Pflege-Bereich durch übergreifende Finanzierungselemente aufzuheben: "Das würde eine kontinuierliche Versorgung erleichtern und organisatorische Hürden abbauen.“

Für die Studie führten die Wissenschaftler in den vier Ländern ausführliche Interviews mit Organisationen und Akteuren, die für die Organisation und Durchführung von Pflege zuständig sind. Außerdem wurden die jeweiligen institutionellen Voraussetzungen erhoben. Die Studie wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit rund 500.000 Euro gefördert. (PM)



Lesen Sie gerne und oft unsere Artikel? Dann helfen Sie uns und unterstützen Sie unsere journalistische Arbeit im Kreis Altenkirchen mit einer einmaligen Spende über PayPal oder einem monatlichen Unterstützer-Abo über unseren Partner Steady. Nur durch Ihre Mithilfe können wir weiterhin eine ausgiebige Berichterstattung garantieren. Vielen Dank! Mehr Infos.




Anmeldung zum AK-Kurier Newsletter


Mit unserem kostenlosen Newsletter erhalten Sie täglich einen Überblick über die aktuellen Nachrichten aus dem Kreis Altenkirchen.

» zur Anmeldung



Aktuelle Artikel aus Region


Schwerer Verkehrsunfall in der Wissener Straße in Windeck - 20-Jähriger schwerstverletzt

Windeck. Laut Polizeiinformationen wurde die Rettungsleitstelle kurz nach vier Uhr morgens über den schweren Verkehrsunfall ...

Diebstähle und Platzverweis in der Region Betzdorf: Polizei sucht Zeugen

Betzdorf. Am 18. April zwischen 20.05 Uhr und 20.30 Uhr wurde in der Siegstraße in Kirchen ein Hinterrad eines E-Bikes gestohlen. ...

Nächtlicher Vandalismus in Fürthen: Unbekannter Täter beschädigt zwei Volkswagen

Führten. Gegen 0.30 Uhr am Donnerstag (18. April) wurde der friedliche Schlaf der Anwohner in Fürthen, Rosenstraße jäh unterbrochen. ...

2. Aktualisierung: Umgestürzter Baum auf Schienen - Züge können eingleisig wieder fahren

Region. Aktuelle berichtet die Deutsche Bahn, dass die Streckensperrung zwischen Herchen und Au (Sieg) aufgehoben wurde. ...

Kreuzerhöhungskirche Wissen sucht nach Brandkatastrophe Orgelpaten

Wissen. Der Gesamtschaden der durch die Brandstiftung verursachten Brandschäden beläuft sich auf über zwei Millionen Euro. ...

Westerwaldwetter: Regen, Schnee und Sonne – am Wochenende ist alles dabei

Region. Das kommende Wochenende (20. und 21. April) hat von allem etwas. Nur die frühlingshaften Temperaturen wollen sich ...

Weitere Artikel


Ein "Pilotprojekt" feierte Jubiläum: Kinder-Ersthelfer-Tag wird seit 25 Jahren angeboten

Flammersfeld. Als die Verantwortlichen diese Ausbildung erstmals anboten, damals im evangelischen Gemeindehaus Horhausen, ...

Die Verbandsgemeinde Kirchen ist "Fit für‘s Klimafolgenanpassungsmanagement"

Kirchen. Unter dem Titel "Fit für’s Klimaanpassungsmanagement" kamen insgesamt 13 Teilnehmer aus Kommunen sowie einer Hochschule ...

"AusbildungsmessePlus" auf dem Luisenplatz Neuwied hervorragend besucht

Neuwied. In der Neuwieder Innenstadt präsentierten sich zwischen 9 und 16 Uhr rund 90 Unternehmen, Handwerksbetriebe und ...

Westerwald-Konferenz bildet Sammelbecken vieler Ideen

Region Westerwald. Die Themen "Kunst und Kultur", "Mobilität", "Regionale Identität", "Westerwälder Alleinstellungsmerkmale" ...

Kinder feierten Erstkommunion in Birken-Honigsessen

Birken-Honigsessen. Einzug gehalten haben die Kinder mit dem Pfarrvikar und den Messdienern, in ihren Händen die Kommunionkerzen. ...

Wäller Helfen Business Netzwerk: vordenken, neudenken, netzwerken

Rotenhain. Das Wäller Helfen Business Netzwerk hat sich als Nachbarschaftshilfe Netzwerk in Rheinland-Pfalz etabliert. Es ...

Werbung