Dr. Lutz Neitzert: „Man kann gewiss sein, dass sich Rechte irgendwo einnisten“
Das Treffen von Angehörigen des gesamten rechten Spektrums in Mehren vor über einem halben Jahr wirkt immer noch nach: War eine beinahe spontan organisierte Demonstration gegen die Zusammenkunft ein erster deutlicher Fingerzeig, wofür die Region steht, nämlich allen voran für Demokratie, folgten weitere klare Statements kommunaler Gremien pro Rechtsstaatlichkeit auf Basis des Grundgesetzes.
Altenkirchen. Viele Menschen waren bestürzt, kommunale Gremien auf dem falschen Fuß erwischt worden, als sich Rechtsextreme, braun angehauchte Esoteriker als auch Reichsbürger kurz nach Jahresbeginn in einer Mehrener Gaststätte getroffen hatten. Eine Demonstration gegen diese Szene war eine erste Reaktion und ein Zeichen, dass diese Klientel in der Region ganz und gar nicht willkommen ist. Kommunale Gremien setzten sich mit dem Meeting auseinander und stellten unmissverständlich klar, dass solche Versammlungen nichts auf dem Grund und Boden des AK-Landes zu suchen hätten. Es gelte, so beispielsweise der Kreistag in einer Erklärung, „dem Aufmarsch- und Versammlungsort antidemokratischer Parteien entschlossen entgegenzutreten“. Parallel wurde konstatiert, dass es vielfach an grundlegender Kenntnis über die rechte Szene fehlt. Dr. Lutz Neitzert (64), Kultursoziologe aus Neuwied, der den Schwerpunkt seiner Forschung auf die rechtsextreme Musik- und Jugendszene legt, gab vor rund 70 Zuhörern unter der Überschrift „Demokratie in der Defensive – Von Neonazis, Identitären und Querdenkern“ im Altenkirchener Kreishaus am Dienstagabend (26. September) einen umfassenden Überblick über die verschiedenen aktuellen antidemokratisch ausgerichteten und rechtspopulistischen Bewegungen und Szenen. Neitzert hatte und hat Lehraufträge an den Universitäten Marburg, Koblenz-Landau und Bonn.
Keine eigene Musik geschaffen
Das musikalische Angebot beschränke sich seit zwei Jahrzehnten nicht mehr auf den sogenannten Rechtsrock, sondern wäre ausdifferenziert in nahezu allen Genres moderner Musik zu hören. Neitzert unterlegte seine Darstellung mit Song-Beispielen verschiedener Gruppen und auch von Solisten. Oftmals wecke rechtsextreme Musik bei Jugendlichen erst ein Interesse an entsprechender Ideologie und könne somit politisierend wirken. Rechtsextreme Musik vermittle ihren jugendlichen Hörern ein Gefühl der Zugehörigkeit, da der Konsum gemeinschafts- und identitätsstiftend wirkt. Bereits bestehende ideologische Affinitäten würden zudem durch die Musik beziehungsweise deren Texte bestätigt und somit gefestigt. „Die rechte Szene versucht, Mainstream-Wissen zu entwerfen“, erklärte Neitzert, „bis jetzt hat die Rechte noch keine eigene Musik geschaffen, sondern nimmt immer Musik, die bereits existiert.“
Festival fürs Asow-Regiment
Auch als einen weiteren Vertreter der rechten Musik-Szene nannte Neitzert Hendrik Möbius, einen rechtskräftig verurteilten Mörder, der unter anderem an einem Festival in der Ukraine teilnahm, bei dem das Asow-Regiment Kämpfer rekrutierte. Die Einheit, die im Ausland häufig als Hort Rechtsextremer gilt, machte während des Ukraine-Krieges in erster Linie durch die Verteidigung des Stahlwerkes Mariupol auf sich aufmerksam. Laut „Spiegel online“ ist die Einschätzung der militärischen Einheit „komplizierter, insbesondere, wenn man die Entwicklung der Truppe seit ihrer Gründung betrachtet. Inzwischen werden die Männer und Frauen des Regiments in der Ukraine als Heldinnen und Helden angesehen. Und von der russischen Propaganda als Beweis für die haltlose Behauptung herangezogen, die Ukraine werde von Nazis regiert“, sodass Russlands Präsident Wladimir Putin die „militärische Spezialoperation“, den Angriffskrieg gegen die Ukraine also, befahl. „Die Grenzen des Absurden sind so oft überschritten“, fasste Neitzert zusammen und untermauerte seine These mit einem weiteren Beispiel aus dem Ukraine-Konflikt. So hätte das Asow-Regiment gegen die private paramilitärische Organisation Wagner-Gruppe gekämpft, die von Dmitri Utkin (gestorben bei einem Flugzeugabsturz am 23. August gemeinsam mit Wagner-Anführer Jewgeni Prigoschin), einem strammen Neo-Nazi, gegründet worden war. „Wagner deshalb, weil es Hitlers Lieblingskomponist war. Die Neo-Nazi-Szene in Russland ist viel stärker“, meinte Neitzert.
Verlag in Güllesheim erwähnt
Verbindungen in die Region sind auch erkennbar. Neitzert nannte beispielsweise den Silberschnur-Verlag in Güllesheim, der auch Werke von Trutz Hardo vertreibe, die die Bereiche Reinkarnation und Esoterik abdeckten. 1998 wurde Hardo wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Beleidigung und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener zu einer Geldstrafe verurteilt und die Weiterverbreitung des monierten Buches untersagt. Darüber hinaus sind Bücher im Angebot, die sich mit der Anastasia-Bewegung befassen. Laut Wikipedia ist sie „eine neureligiöse Bewegung, die mit Biolandbau verbundene völkische Siedlungsprojekte verfolgt. Sie entstand 1997 in Zentralrussland durch die Anastasia-Schriften von Wladimir Megre und verbreitet sich seitdem weltweit. Ihre Ideologie, die Anastasia-Lehren oder der Anastasianismus, wird der rechten Esoterik und Neopaganismus zugeordnet. Sie transportiert teils verschwörungsideologische, rassistische und antisemitische Inhalte.“ Deutsche Verfassungsschutzbehörden stuften die Bewegung als rechtsextremen Verdachtsfall ein. Als Neopaganismus werden seit dem 19. Jahrhundert aufgekommene religiöse und kulturelle Strömungen bezeichnet, die sich vor allem an antikem, keltischem, germanischem und slawischem Heidentum sowie an außereuropäischen ethnischen Religionen orientieren.
„Sie nisten sich irgendwo ein“
Alles in allem, so stellte Neitzert mit Blickrichtung auf die Anhänger der rechten Ideologien fest „haben deren Siedlungsprojekte zugenommen. Sie suchen sich Orte aus, sie sind schon da. Man kann gewiss sein, dass sie sich irgendwo einnisten“. Im Vergleich dazu hätte sich die Rechte im urbanen Raum noch nicht etabliert, „weil es da Gegenkräfte gibt“. In erster Linie setzte er auf die nachwachsenden jungen Generationen, die die rechte Szene zurückdrängen könnten. Inwieweit die Demokratie überhaupt Bestand habe, sei fraglich. „Wir müssen so langsam realisieren, dass es einen großen Gegenentwurf gibt. Und das ist China.“ Jugendliche sähen eine Option, ihre Vorstellungen zu entwickeln – in einer undemokratischen, aber lebenswerten Welt. Die Meinung in China sei: „Wir können uns in der subkulturen Szene ausleben.“ Die alles entscheidende Frage sei: „Was ist der Vorteil der Demokratie?“, sprach’s und wollte sie in seinem eigenen Leben auf keinen Fall mehr missen.
„Uns steht das Wasser bis zum Hals“
„Es ist wichtig, dass wir uns positionieren“, hatte Fred Jüngerich als Bürgermeister der Verbandsgemeinde Altenkirchen-Flammersfeld, dritter Kreisbeigeordneter und in Vertretung des Hausherren, Landrat Dr. Peter Enders, in das Thema eingeleitet. Der Tenor aller Diskussionen sei, dass sich rechtsextreme Gruppen nicht breit machen dürften. Der Westerwald dürfe nicht mit ihnen assoziiert werden. „Was muss der Staat machen? Welche Aufgaben erfüllen Bund und Länder“, fragte Jüngerich rein rhetorisch und ging auf die Flüchtlingsproblematik ein: „Uns steht das Wasser bis zum Hals.“ Das könne dazu führen, dass diese rechten Gruppierungen noch stärker auf den Plan treten, „was wir alle nicht wollen. Ich sehe den Bund in einer gewissen Pflicht, die Kommunen zu entlasten“. Im ländlichen Raum dürften keine Dinge geschehen, „die wir alle nicht wollen. Wir wollen den Mund aufmachen“. (vh)
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