Memorabilia IX: Der Steinerother Schulstreik
Von Niklas Hövelmann
KOLUMNE | Anfang des 19. Jahrhunderts sollte die Schulpflicht auch im Westerwald so langsam durchgesetzt werden. Schnell stieß das kopflos ausgearbeitete staatliche Konzept auf heftigen Widerstand in der Bevölkerung dieses zerklüfteten Landstrichs. Die Eltern Steineroths lieferten sich gar einen fast zwei Jahre andauernden Kleinkrieg mit den Behörden, dessen Folge man guten Gewissens als waschechten Schulstreik bezeichnen kann.
Steineroth. In der letzten Ausgabe der Memorabilia ging es eher tragisch zu. Thema war die bewegende Lebensgeschichte des Kleptomanen und Bigamisten Anton Kühlwetter, des letzten Gehenkten der Stadt Unkel (Wir berichteten). Dieses Mal führt der Weg ans andere Ende des Westerwalds, nämlich nach Steineroth. Hier boykottierte die Gemeinde in den 1820er-Jahren für fast zwei Jahre die behördliche Schulpflicht. Memorabilia IX über arme Regionen, seltsame Schulsysteme und skurrile Besoldung.
Ein modernes Thema (?)
Aktuell hält die Debatte um die neuesten Schülerproteste die Region in Atem. Weil die Boomer dem Baal wieder ohne Anlass Kinder opfern wollen, rufen diese gerade zum Schulstreik auf. In mehreren Städten kamen am Freitagmorgen Schulpflichtige zusammen, um gegen die geplante Wehrdienstreform des Bundes zu demonstrieren. Gesamtgesellschaftlich haben die Pläne eine leichte Mehrheit in der Bevölkerung, wobei die Zustimmungsrate positiv mit dem chronologischen Alter korreliert. Während die Gen Z die Bestrebungen relativ deutlich ablehnt, fällt die Zustimmung in der Boomergeneration am deutlichsten aus. Auch auf dieses Missverhältnis, dass gerade die Älteren, die von den Plänen in keiner Weise betroffen sind, die Jüngeren zum Dienst im Heer drängen wollen, möchten die Initiatoren hinweisen.
Die Grundidee, die eigenen politischen Ziele durch Schulboykott zu erreichen, ist derweil älter, als man denken mag. Bereits vor fast 200 Jahren wollten die Steinerother auf diese Weise die preußische Verwaltung im Streit um die Unterrichtsmodalitäten zum Einlenken bewegen.
Das antike Schulsystem
Also auf ins 19. Jahrhundert! Seit den Befreiungskriegen stand die Grafschaft Sayn-Altenkirchen, der Steineroth angehörte, unter preußischer Vorherrschaft. So kam es auch, dass langsam aber sicher preußisches Recht und Gesetz im Westerwald Durchsetzung erfahren sollten. Ein tiefgreifendes Institut war dabei das preußische Schulgesetz, das einen starken Einschnitt in den Alltag in der Provinz bedeutete. Bis dahin wurde der Unterricht noch relativ lax privat nach althergebrachtem Vorbild abgehalten. So wurde der Lehrer von der Gemeinde oder einem Verbund von Privatpersonen (was damals im Wesentlichen auf das Gleiche hinauslief) einbestellt und finanziert. Dieser war dann wiederum sehr frei in der Ausgestaltung seines Lehrplans. Eine Teilnahmepflicht bestand in keiner Weise, sodass in ländlicher Umgebung außerhalb der Wintermonate quasi kein Unterricht stattfand.
Gerade im Westerwald, einer historisch eher ärmlichen, bäuerlichen Gegend, wurde in der Saison jede helfende Hand gebraucht, sodass, wenn Feldarbeit möglich war, die Klassen leer blieben. Mit den drei Hanseln, die nun noch am Unterricht hätten teilnehmen können, war es nicht möglich, genug Schulgeld zusammenzubekommen, um den Lehrer zu besolden. Daher fand Schule praktisch nur im Winter statt, wenn Feldarbeit nicht möglich war.
Im Grunde war dies das seit der Antike übliche System. Und auch gar nicht schlecht, wenn man sich die finanziellen Möglichkeiten vor der industriellen Revolution ins Gedächtnis ruft. So darf etwa für das kaiserzeitliche Rom und seine Provinzstädte eine sehr hohe Alphabetisierung angenommen werden.
Die kurzsichtige Revolution
Aber weil nun mal nichts ewig währt, sollte dieses altehrwürdige Konzept zu Beginn des 19. Jahrhunderts sein Ende finden. Von dem an sollte der Unterricht zum einen zentralisiert stattfinden (Schulgebäude waren bis dahin nicht unbedingt die Regel). Weiter sollte die Organisation jetzt von den lokalen Autoritäten ausgehen, der Besuch sollte zur Pflicht werden – ganzjährig. Die Finanzierung lag in der Hand der Gemeinden, die diese auf die Eltern umlegen würden. Gerade in ärmeren ländlichen Gegenden wie dem Westerwald war das ein massives Problem, denn diese konnten sich das Lehrergehalt schlichtweg nicht leisten. Demzufolge wurde die Bezahlung des "Paukers" nicht selten teilweise durch Naturalabgaben gedeckt. Dazu kam eine Einrichtung, die Willi Merzhäuser, dessen Artikel aus dem Heimatjahrbuch des Kreises Altenkirchen aus dem Jahr 1988 die Basis dieser Arbeit bildet, Wandeltisch nennt. Der Wandeltisch bedeutete kurz gesagt, dass der Lehrer immer im Wechsel bei den verschiedenen Familien des Orts mitessen durfte. Das war natürlich eine unfassbar dämliche Idee gewesen – vor allem in Zeiten, in denen die Prügelstrafe nicht ungewöhnlich war.
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Weltfremde Bürokraten gegen sture Bauern
Das umzusetzen, bemühte sich die für den Westerwald zuständige Koblenzer Verwaltung schon relativ direkt nach den Befreiungskriegen, 1815. Zunächst durch einfache Anordnungen versucht, gossen sie diese 1817 in Gesetzesform, nachdem sie kein Mensch ernst genommen hatte. Wie auch? Die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen änderten sich ja schließlich nicht auf magische Weise über Nacht. Selbstverständlich wurde auch die neue staatliche Vorschrift konsequent ignoriert. Etwa elf Jahre hielt dieser Zustand an, bis die Regierung 1828 Zwangsbestimmungen gegen die Missachtung der Schulordnung beschloss.
Von 1798 bis hierhin wurde der Unterricht in Steineroth nach altem Brauch und von unausgebildetem Personal gehalten. Einen eigenen Schulraum gab es derweil durchaus.
Anfang des Jahres 1828 legte der Regierungspräsident von Koblenz fest, dass die 23 schulpflichtigen Steinerother Kinder künftig in Molzhain am Unterricht teilzunehmen hätten. Was passierte, kann sich eigentlich jeder schon denken: nichts! Die Eltern ignorierten den Beschluss aus Koblenz geflissentlich. Der Gemeindevorstand legte Beschwerde gegen die Verfügung ein und startete einen schriftlichen Kleinkrieg mit den Behörden. Diese antworteten sogleich, kamen dem Anliegen ein Stück weit entgegen, beharrten jedoch auf ihrem Entschluss.
Wollten die Steinerother den Unterricht im Ort veranstalten, so müssten sie einen qualifizierten Lehrer anstellen. Wieder ignorierten die Eltern die Anordnung. Jetzt wurde ihnen ein Strafgeld aufgebrummt, das sie selbstverständlich nicht zahlten. Also zogen sich die Verhandlungen zwischen Steineroth und Koblenz weiter hin. Kurzzeitig sollten die Kinder ins benachbarte Gebhardshain geschickt werden, wobei auch das schnell boykottiert wurde. Angeblich sei der Weg aufgrund des Wetters nicht zumutbar gewesen. Wieder wurde eine Strafzahlung verhängt, wieder ließen die Steinerother die Behörden wissen, dass sie sich nicht daran halten würden.
Zähe Verhandlungen
Im Mai kam es dann zu so etwas wie einer Einigung: Mit Christian Kühn konnten die Steinerother einen Kandidaten an Land ziehen, der die nötige Qualifikation besaß, die örtliche Schule zu leiten, und scheinbar bezahlbar war. Entlohnt werden sollte er nach altbekanntem Brauch. In Koblenz war man aber skeptisch, ob die Gemeinde das Gehalt würde aufbringen können. Es wurde eine Vorausleistung verlangt, welche die Steinerother tatsächlich nicht aufzubringen imstande waren. Also blieben die Kinder weiterhin daheim. Die Monate vergingen. Mitte September entschloss man sich dann zum Verkauf eines Gemeindegrundstücks, um das nötige Geld aufbringen zu können.
Bis die Erlaubnis hierzu aus Koblenz kam, vergingen weitere Monate. Letztendlich dauerte es bis März 1829, ehe das Grundstück schließlich verkauft war. Als finalen Streich lehnte der Kreisschulinspektor den Wunschlehrer der Steinerother ab. Dadurch und auf der Suche nach einem neuen Kandidaten strichen weitere Monate durchs Land. Endlich, am 18. November 1829, endete der Schulstreik mit der Einberufung Johann Hubert Müllers an die Schule von Steineroth.
Die Lehre dieser kleinen Anekdote darf nun jeder für sich selbst suchen. (NH)
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