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Muscheid machte den Genossen Mut
"Dem Morgenrot entgegen" sang Jörg Brück beim Herbstempfang der Kreis-SPD am Freitag im Bürgerhaus in Biersdorf (der AK-Kurier berichtete). Die Genossen kannten zwar den Text der alten sozialdemokratischen Hymne nicht, schienen ihn aber irgenwie als Aufforderung für einen neuen Aufbruch auch der heimischen SPD zu verstehen. Auch wenn "die junge Garde des Proletariats" sich in Biersdorf eher rar machte. Für Zukunftsmut der geschundenen Parteiseele sorgte dann auch der Gastredner, DGB-Landesvorsitzender Dietmar Muscheid. Der zerpflückte fast schon genussvoll den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung, ließ aber auch an den sozialpolitischen Sünden der eigenen Partei in der Vergangenheit kein gutes Haar.
Kreis Altenkirchen/Biersdorf. Mit dem DGB-Landesvorsitzenden Dietmar Muscheid hatte die Kreis-SPD genau den Richtigen als Gastredner für ihren diesjährigen Herbstempfang in Biersdorf ausgewählt. Denn der nahm kein Blatt vor den Mund, sowohl was die Fehlgriffe der eigenen Partei unter den Schröderianern, noch was die "zu erwartenden sozialpolitischen Grausamkeiten" der schwarz-gelben Koalition in Berlin betrifft. Wer die beiden vergangenen Empfänge der Partei miterlebt hatte, mag sich verwundert die Augen gerieben haben: Das waren ganz neue (alte) Töne. Vor allem die gestandenen Genossen waren begeistert: "Das ist wieder Sozialdemokratie". Zumindest ließ Muscheid dies vermuten. Aber er sieht seine Partei natürlich auch und vor allem durch die Gewerkschaftsbrille.
Muscheid beschönigte nichts: "Bei den Wahlen am 27. September haben wir eine Klatsche bekommen." Und diese Klatsche beruhe nicht auf einem "Vermittlungsproblem", wie einige führende Sozialdemokraten glaubten. Er nannte keine Namen, aber jeder wusste, wer gemeint war. Offenbar habe sich von den verantwortlichen Großkoalitionären niemand gefragt, was die Menschen von der SPD verlangen. Diese nämlich seien bitter enttäuscht worden. Und Muscheid machte klar: Wenn man die Landtagswahlen 2011 gewinnen will, "muss es auch im Bund stimmen." Bei der Landesregierung sah Muscheid da keine Probleme. Die zeige "Kante für die Arbeitnehmer und ihre Interessenvertretungen". Das müsse in Zukunft noch deutlicher dargestellt werden.
Dann kam Muscheid zur Sache und nahm sich den Koalitionsvertrag der Berliner Regierung vor. Genüsslich bezeichnete er das "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" als "Volksverdummungsgesetz". 20 Euro Kindergeld mehr sei zwar in Ordnung, aber weitere "angebliche Wohltaten" wie die Erhöhung des Kinderfreibetrages lehnte er ab. Das sei keine Sozialleistung, nütze nur Besserverdienenden. Offenbar setze die FDP in der Koalition die Akzente, viele Passagen trügen deren Handschrift. "Hier wedelt der Schwanz mit dem Hund", höhnte Muscheid. Und viele Dinge stünden im Koalitionsvertrag noch garnicht drin, mutmaßte er. Nach den Landtagswahlen kämen noch Dinge auf die Bürger zu, "die werden uns nicht erfreuen."
Auch die Europapolitik der Koalition nahm sich Muscheid vor. Diese lehne grenzüberschreitende Sozialsysteme ab und wolle ein Europa des reinen Marktes. Aber der Markt brauche Regeln und die müssten in Deutschland und in Europa gelten, mahnte Muscheid.
Auch bei der Rolle des Staates sah Muscheid die Handschrift der Neoliberalen. Die Koalition sage ganz klar, dass privat den Vorrang habe solle. Auch bei den Sozialsystemen. Die umlagefinanzierten Sozialsysteme aber seien stabil, im Gegensatz zu den kapitalgedeckten, wie das Schicksal vieler Rentner in den USA zeige.
Auch beim Thema ÖPNV sah Muscheid harte Zeiten kommen. Der Trend sei, nur noch das zu machen, womit Geld zu verdienen sei. Dies aber bedeute schlechtere Dienstleistungen und auch schlechtere Arbeitsbedingungen. Dabei sei doch eines klar: "Die Privatisierungsideologie ist auf breiter Front gescheitert."
Auch die geplanten Steuersenkungen sorgten bei Muscheid für Kopfschütteln. Die Hälfte der 24 veranschlagten Milliarden zahlten die Länder, "die ohnehin kein Geld mehr haben". "Wir können keine Steuersenkungen finanzieren", sagte Muscheid. Die Konsequenzen von Steuersenkungen wären fatal: Weniger Lehrer, weniger Polizei, weniger Schwimmbäder, weniger Büchereien und, und, und..." Was man brauche, sei die Vermögenssteuer und eine gerechte Erbschaftssteuer und nicht zuletzt eine Finanztransaktionssteuer, forderte Muscheid in seiner immer wieder von Beifall unterbrochenen Rede.
Zum Thema Energie sagte der Redner, was man brauche, seien mehr alternative Energie, aber keinesfalls Atomkraft.
Zum Thema Arbeit: Fatal sei die Infragestellung des Mindestlohnes durch die neue Koalition. Damit werde akzeptiert, dass Hundertausende vollzeit arbeiten, aber davon nicht leben können. "Das ist unchristlich und asozial", schimpfte Muscheid. Auch geißelte er die überbordende Leiharbeit, die mehr und mehr für Lohndumping sorge.
Aber auch die eigenen Genossen der Schröder-Ära bekamen bei Muscheid ihr Fett weg: "Hartz IV war und bleibt ein Fehler." Dafür habe die SPD bei den letzten Wahlen den Preis bezahlt. Das gelte auch für die Rente mit 67: "Dies war falsch, ist falsch und bleibt falsch."
Was die gesetzliche Krankenversicherung betrifft, so treffe der eingefrorene Arbeitgeberanteil nur die Arbeitnehmer und Rentner, die jetzt jede Erhöhung selbst tragen müssten. Das sei nichts anderes als eine "Kopfpauschale". "Dies ist das Ende der solidarischen Beitragsfinanzierung und das Ende des Sozialstaates", rief Muscheid unter dem Beifall der Genossen. Auch müsse das solidarische Rentensystem wieder gestärkt werden. Gerade bei diesem Thema habe die SPD viel an Glaubwürdigkeit verloren, sagte Muscheid.
Was die Ausbildung junger Menschen betrifft, so machte sich Muscheid dafür stark, dass sie trotz Krise eine Übernahmechance erhalten. Junge Menschen ohne berufliche Perspektive bedeuteten jede Menge Sprengstoff für die Gesellschaft.
Stark machte sich der Redner auch für ein konsequenteres Eintreten gegen den Rechtsextremismus. Dies müsse in konkretem Handeln sichtbar werden, forderte er auf. Dazu gehöre auch, dass endlich die NPD verboten werde.
Trotz aller fundamentalen Kritik hatte Muscheid am Schluss noch ein paar versöhnliche Worte bereit. Grundsätzlich nämlich sei die Gewerkschaft zur Zusammenarbeit mit der Berliner Regierung bereit, "da, wo es Sinn macht." Wo das sein könnte, sagte er nicht, aber zu den Genossen in Biersdorf: "Wir brauchen eine starke Opposition. Glück Auf." (Reinhard Schmidt)
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Dietmar Muscheid machte den Genossen beim Herstempfang der Kreis-SPD in Daaden-Biersdorf gehörig Dampf. Am Vorstandstisch (von links): Kreisvorsitzender Dr. Matthias Krell (MdL), Regionalgeschäftsführerin Eva Frömgen und Thorsten Wehner (MdL). Fotos: Reinhard Schmidt
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